Junge Soldaten in zusammengewürfelten Uniformen funken ihrem Einsatzleiter. Sie wollen unsere Bewilligung überprüfen. Es ist Mitte Dezember in der Region Bergkarabach und die Ortschaft, in der wir filmen wollen, gehörte zu den am heftigsten umkämpften Gebieten während des Krieges.
Das Gebiet zurückerobert hat Aserbaidschan schon Wochen zuvor, doch die Front ist nicht weit und Gerüchte über armenische Soldaten, die sich in den Wäldern versteckten, machen die Runde.
«Was ich sah, hat mich traumatisiert»
Wir sind ins Dorf gekommen, um Chalik Gumbatow bei einem Besuch zu begleiten. Während die Soldaten in ihr Funkgerät sprechen, will er sich selbst mit dem Feldstecher ein Bild vom nächstgelegenen Posten machen. Er kennt die Gegend besser als die Soldaten, die seit ein paar Wochen hier sind.
Chalik Gumbatow hat 14 Jahre lang hier gelebt. Bis ihn der Krieg in der Region Bergkarabach zwischen 1988 und 1994 zum Flüchtling machte: «Sie kamen mit Maschinengewehren in unser Haus und zwangen uns unser Haus und alle unsere Tiere zurückzulassen. Ich war noch ein Kind. Was ich damals gesehen habe, hat mich traumatisiert.»
Der heute 41-Jährige gehört zu den 600’000 Flüchtlingen Aserbaidschans, die aus der Region Bergkarabach von armenischen Milizen vertrieben wurden. Der Krieg zwischen September und November 2020 ist die Fortführung des Krieges von damals. Fast alle Gebiete in Bergkarabach, die Aserbaidschan einst verloren hatte, wurden im jüngsten Krieg zurückerobert.
Unterwegs zwischen Minen
Wären die Wiesen und Wege rund um das Dorf nicht so stark vermint, Chalik würde morgen schon seine Koffer packen. Doch es wird Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis das Gelände nicht mehr gefährlich ist. Drei Wochen vor unserem Besuch starben im Dorf vier Aserbaidschaner. Und ein Mitglied der russischen Spezialtruppe zur Minenentschärfung wurde bei einem Einsatz verletzt. Abseits von befahrenen Strassen sollte man sich nicht bewegen und auch Gegenstände sollte man nicht anheben, wird uns geraten.
Unter Aufsicht von Soldaten hisst Chalik die Flagge von Aserbaidschan. Bis vor kurzem hiess der Ort noch Matagis, seit kurzem nun Sukowuschan. Verantwortlich dafür ist Ilham Alijev, der autokratische Herrscher Aserbaidschans. Es gibt keine Strasse ohne ein Plakat mit Alijev.
Mit erhobener Faust wird Alijev zitiert mit dem Spruch: «Karabach ist Aserbaidschan!». Die Zugehörigkeit der Region Bergkarabach zu Aserbaidschan ist völkerrechtlich unumstritten. Der Personenkult wirkt befremdlich. Heldenverehrung ist in Aserbaidschan längst nicht nur auf den Präsidenten beschränkt.
(K)eine Heldentaten
Auf dem Friedhof der Stadt Mingätschewir, zweieinhalb Autostunden vom Dorf entfernt, treffen wir Orchan Mamischow, den Bruder eines gefallenen Soldaten. Er sagt über seinen Bruder: «Nurlan war sehr gesellig. Er ist mit allen gut ausgekommen.» Diesen Eindruck scheint sich am Grab zu bestätigen, als eine Gruppe von Freunden vorbeikommt. Nihad Semedow ging neun Jahre mit Nurlan zur Schule.
«Die gefallenen Soldaten sind auserwählt worden, es war ihr Schicksal», sagt er über die mehreren tausend jungen Männer, die im Krieg um Bergkarabach gefallen sind. «Ein Märtyrer – ein Shahid – zu werden, ist der Traum eines jeden Aserbaidschaners.» Shahid ist im Islam ein für Gott Gefallener.
Ein Märtyrer – ein Shahid – zu werden, ist der Traum eines jeden Aserbaidschaners.
Die Art wie Nihad über das Töten im Krieg spricht, ist mir fremd. «Nurlan hat mich während des Krieges kurz angerufen und erzählte: «Ich habe fünf Armenier erschossen und als mir danach die Patronen ausgingen, habe ich den sechsten Armenier erwürgt. Jetzt habe ich ihre Pässe und ihre Zigaretten.» Doch mit Nurlan wird Nihad keine Zigaretten mehr rauchen können.
Wenig Hoffnung auf Frieden
Für Flüchtlinge wie Chalik ermöglichte der Sieg eine Rückkehr in die Heimat. Für die gefallenen Soldaten bedeutete der Krieg nie wieder nach Hause zurückkehren. Gestorben ist der 20-jährige Nurlan unweit des Dorfes von Chalik. Orchan schildert den Tod seines Bruders: «Während einer kurzen Pause fühlte sich Nurlan sicher und zog seine schusssichere Weste aus. Er wurde von einer Kugel getötet.»
Auf den Preis des Sieges angesprochen, sagt Chalik, es habe keinen anderen Ausweg gegeben: «Wir haben während Jahren versucht mit friedlichen Mitteln unser Land zurückzubekommen. Aber sie gaben es uns nicht. Deswegen hat der Krieg erneut angefangen. Wenn ich jetzt jemanden noch sagen höre, es brauche wieder Krieg, dann ist das für mich kein normaler Mensch. Krieg ist grauenhaft.»
Wenn ich jetzt jemanden noch sagen höre, es brauche wieder Krieg, dann ist das für mich kein normaler Mensch. Krieg ist grauenhaft.
Für Chalik steht das Heimatdorf an erster Stelle und er möchte in Zukunft gerne wieder mit Armeniern zusammenleben. Mit seiner Offenheit scheint er in der Minderheit zu sein. Gäbe es auf beiden Seiten eine Mehrheit, die wie Chalik denkt, gäbe es Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Dafür spricht zurzeit kaum etwas.