SRF News: Wie zeigt sich die Krise in Venezuela im Alltag der Menschen?
Hildegard Willer: Man merkt schon bei der Ankunft am Flughafen, dass etwas nicht stimmt. Auf dem grossen Flugfeld stehen nur ein paar wenige venezolanische Flugzeuge herum, die Abfertigungshallen sind leer.
Wie wirkt sich die Krise auf die Menschen aus?
Die Leute in Caracas erzählen, dass viele Venezolanerinnen und Venezolaner versuchen, das Land zu verlassen, weil sie dort nicht mehr überleben können. Sie flüchten auf dem Landweg in andere lateinamerikanische Länder, denn Geld für einen Flug hat praktisch niemand. Von peruanischen Gewährsleuten habe ich erfahren, dass dort jeden Tag bis zu 400 Venezolaner in Bussen ankommen, die das Land via Ecuador verlassen haben. Es ist ein wahrer Exodus aus Venezuela im Gange.
In den Supermärkten gibt es zwar wieder Nahrungsmittel, doch sie sind für die meisten Leute unerschwinglich.
Woran fehlt es jenen Venezolanern, die im Land bleiben, am meisten?
Sie haben kein Geld, um Essen zu kaufen. In den Supermärkten gibt es zwar wieder Nahrungsmittel, doch die Preise dieser Produkte werden nach dem Schwarzmarkt-Dollarkurs umgerechnet. Das macht sie für die meisten Leute unerschwinglich. Zwar erhalten viele Venezolaner Essenspakete vom Staat. Diese enthalten Reis, Mais, Kaffee, etwas Zucker und Speiseöl. Doch die Mengen sind zu gering, um ausschliesslich davon leben zu können. Kommt hinzu, dass nur parteinahe Personen in den Genuss dieser subventionierten Lebensmittel kommen. Den Leuten fehlt es also an Essen, an Medikamenten und an Bargeld. Deshalb gibt es lange Warteschlangen vor den Bancomaten. Viele versuchen auch, in den Geschäften mit ihrer Debit-Karte zu bezahlen. Doch oftmals funktionieren die Lesegeräte nicht. Dann kann man halt nichts kaufen.
Gäbe es also genügend Lebensmittel im Land, nur können die Leute sie sich nicht leisten?
Das ist schwierig zu sagen. Auf jeden Fall gibt es in den Supermärkten jetzt viel mehr zu kaufen als vor eineinhalb Jahren. Damals waren die Regale leer.
Die Leute sind traurig und deprimiert. Auch jene, die auf die politische Opposition hofften, sind enttäuscht. Denn diese ist komplett gespalten.
Wie gehen die Venezolaner mit der Krise um?
Ich habe mit Studenten an der Universität gesprochen. Elf von zwölf sagten mir, sie wollten das Land verlassen. Jene, für die eine Flucht nicht möglich ist, versuchen, irgendwie an Devisen heranzukommen. Manchmal ist das durch Verwandte im Ausland möglich oder, indem man für einen Ausländer eine Arbeit verrichten kann. Denn schon ein paar Dollar reichen, um zu überleben. Insgesamt sind die Leute traurig und deprimiert. Auch jene, die auf eine Besserung der politischen Lage hofften, sind spätestens seit den Gouverneurswahlen im Oktober völlig desillusioniert. Damals zeigte sich mit aller Deutlichkeit, dass auch die Opposition komplett gespalten ist.
Es wird registriert ob jemand demonstriert oder auf der Strasse fotografiert. Manche Venezolaner sitzen selbst wegen Twitter-Mitteilungen im Gefängnis.
Wie kommt es, dass angesichts dieser aussichtslosen Lage die Proteste gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro noch nicht eskaliert sind?
Die Leute sind in erster Linie mit dem Überleben beschäftigt. So verbringt etwa jemand, der einen kranken Angehörigen hat, jeden Tag Stunden damit, die nötigen Medikamente aufzutreiben. Täglich muss man ausserdem versuchen, etwas zu Essen aufzutreiben. Seit Jahren herrscht eine Hyperinflation, praktisch täglich wird in Venezuela alles teurer. Hinzu kommt die Repression des Staates: Es wird registriert ob jemand demonstriert oder auf der Strasse fotografiert. Manche Venezolaner sind selbst wegen Twitter-Mitteilungen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden.
Bislang liess die Regierung keine humanitäre Hilfe ins Land. Gibt es Anzeichen, dass sich das bald ändern könnte?
Nein. Offenbar laufen zwar Gespräche zwischen der Regierung und grossen internationalen Hilfsorganisationen, doch bislang sind sie ohne Erfolg. Manche Menschen in Venezuela hoffen nun, dass die Risse innerhalb der Regierungspartei der Chavisten grösser werden und sich dadurch Änderungen ergeben könnten. Dafür gibt es bislang allerdings nur ganz wenige Anzeichen. Doch sie geben den Venezolanern immerhin ein kleines bisschen Hoffnung.
Das Gespräch führte Linda von Burg.