Seit ein paar Wochen wird die afghanische Hauptstadt Kabul alle paar Tage von schweren, tödlichen Anschlägen erschüttert. Einmal stecken die Taliban hinter den Anschlägen, ein anderes Mal die afghanischen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat Khorasan-Provinz.
SRF News: Wie ist unter diesen Umständen ein normales Leben in Afghanistan überhaupt möglich? Auf dem Land ist nur noch gut die Hälfte aller Bezirke unter Kontrolle der Regierung?
Thomas Ruttig : Die Afghanen in Kabul und in anderen Städten im Land sind natürlich gezwungen, ein normales Leben aufrechtzuerhalten. Aber sie selber sprechen immer wieder davon, dass ihr Leben von grosser Angst geprägt ist.
Die Taliban haben seit 2001 und besonders seit 2005 jedes Jahr Fortschritte gemacht bei der Kontrolle von Territorien. Nach US-Angaben leben über drei Millionen Menschen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Über acht Millionen weitere wohnen in Gegenden, die weitgehend unter Kontrolle der Taliban stehen.
Nur darf man sich das aber nicht als vollständiges Chaos vorstellen, denn die Taliban haben auch Regierungsstrukturen aufgezogen. Sie haben Stellen eingerichtet, mit denen afghanische und andere Nichtregierungsorganisationen bei Projekten zusammenarbeiten können. Die Taliban nehmen auch Einfluss auf das Bildungssystem, damit es weiterläuft. Kompliziert ist es in den Gegenden, die umkämpft sind und wo die meisten Gewalttaten verübt werden. Dort ist natürlich niemand sicher.
Das heisst, die Taliban heute sind nicht mehr die Taliban von damals, die zumindest für Mädchen keinerlei Bildung mehr zugelassen haben?
Ja, die Taliban, die sich weiterhin als rechtmässige Regierung Afghanistans sehen, kämpfen um die Unterstützung der afghanischen Bevölkerung genauso, wie es die afghanische Regierung tut. Und die Taliban haben inzwischen gelernt, dass man das nicht durch Konfrontation und Verbote umsetzen kann, sondern dass man auf bestimmte Notwendigkeiten Rücksicht nehmen muss. Dazu gehört natürlich auch Schulbildung oder der Bau von Infrastruktur. Sie bauen nämlich zum Teil auch Strassen. Es ist aber nicht so, dass alle Menschen, die unter den Taliban leben, diese auch ablehnen.
Aber die Taliban tun ist nicht mehr so rabiat wie noch in den 1990er Jahren.
Ich will die Taliban jetzt nicht als «liberale Bewegung» darstellen, sie setzen schon ihre eigene Politik durch. Aber sie tun das nicht mehr so rabiat wie noch in den 1990er Jahren.
Trotzdem sind 1,5 Millionen Menschen innerhalb Afghanistans auf der Flucht. Das hat schon mit den Taliban zu tun?
Das hat mit den Kämpfen zu tun zwischen den Taliban und der Regierung. Ich will die Taliban nicht besser machen als sie sind. Denn zwei Drittel der zivilen Opfer in Afghanistan gehen immer noch auf das Konto der Taliban. Es gibt aber auch schon seit Jahren einen humanitären Dialog zwischen dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und den Taliban. Da wird versucht, den Taliban klar zu machen, wenn sie sich selbst als Regierung ansehen, dass sie dann auch internationale, menschenrechtliche Normen achten müssen.
Könnte die afghanische Regierung zu solchen Gesprächen Hand bieten?
Theoretische schon. Nur stecken beide Seiten in einem «Blame Game» der gegenseitigen Vorwürfe. Die Taliban sagen, wir reden nicht mit der afghanischen Regierung, weil das Marionetten des Westens sind. Und umgekehrt sagt die afghanische Regierung, wir reden nicht mit den Taliban, weil das Marionetten Pakistans sind. Pakistan müsse zuerst mit Afghanistan Frieden schliessen. Das ist im Moment eine Sackgassen-Situation, aus der man raus muss. Dafür müsste sich auch die internationale Gemeinschaft stärker einsetzen.
Und welche Rolle spielt die Terrormiliz IS in dieser Sackgasse?
Der afghanische Ableger des IS, der sich Islamischer Staat Khorasan-Provinz nennt, und seit Ende 2014 aktiv ist, ist ein neuer Akteur, der die Frontverläufe in Afghanistan weiter verkompliziert hat und besonders brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Damit bietet sich den Taliban die Chance, als moderatere islamistische Version gegenüber der Bevölkerung dazustehen.
Aber insgesamt ist die Schlagkraft des afghanischen IS-Ablegers relativ gering. Strategisch spielen sie keine grosse Rolle, aber sie haben ein grosses «Störpotenzial», indem sie immer wieder Terroranschläge gegen die schiitische Bevölkerungsminderheit (20 bis 30 Prozent) in Afghanistan verüben. Und sie versuchen, wie in Syrien und im Irak, einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu provozieren. Aber bisher hat sich Afghanistan dagegen als immun erwiesen.
Die Nato-Staaten planen nächstes Jahr, mehr Militär-Ausbildner nach Afghanistan zu entsenden. Kann das etwas bewirken?
Ich glaube nicht, dass das den Konflikt in Afghanistan lösen wird. Der Ansatz ist dabei, mit mehr militärischem Druck die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen. Das ist aber auch schon unter den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama versucht worden und hat so nicht funktioniert.
Klar ist, dass es nur eine politische Lösung für Afghanistan gibt.
Zudem möchte die internationale Gemeinschaft, die so viel in Afghanistan investiert hat, jetzt nicht, dass die dort herrschende Regierung zusammenbricht. Die ist allerdings auch Teil des Problems. Es muss Reformen geben, denn in Afghanistan geht es nicht nur um die Taliban als Problem. Klar ist, dass es nur eine politische Lösung für das Land gibt. Das sagen auch die meisten Politiker und Diplomaten, die sich mit Afghanistan beschäftigen. Das haben sie in den vergangenen 17 Jahren gelernt.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.