Nach wochenlangem Abstandhalten dürfen sich in Deutschland Angehörige verschiedener Haushalte wieder verabreden. Zudem dürfen alle Geschäfte, unabhängig ihrer Grösse, wieder öffnen. Das hat die deutsche Bundesregierung am Mittwoch beschlossen. Die Bundesländer erhalten zwar wieder mehr Macht, aber es gibt eine Notbremse. Details von der Deutschland-Korrespondentin.
SRF News: Mehr Macht für die Bundesländer – wie fallen die Reaktionen auf den gestrigen Entscheid aus?
Bettina Ramseier: In der Presse wird das sehr unterschiedlich bewertet. Die einen sagen ganz klar, die Kanzlerin habe einen Machtkampf verloren. Jemand hat es so bezeichnet: Sie sei gefallen, aber sie sei immerhin elegant gefallen – weil sie trotz allem eine zentrale, bundeseinheitliche Regel durchgesetzt hat mit einer sogenannten Notbremse. Viele warnen, der Entscheid war zu früh und er gehe zu weit, es könnte eine zweite Welle kommen. Andere sind wiederum erleichtert: Endlich könne man zur Normalität zurückkehren.
Bereits zuvor waren einige Bundesländer vorgeprescht und haben Lockerungen bekannt gegeben. Musste sich Kanzlerin Merkel dem Druck beugen?
Ein Stück weit schon, faktisch hatten die Bundesländer immer diese Kompetenzen, die sie jetzt wahrnehmen. Das ist Föderalismus und liegt in der Natur der Sache. Zuletzt hatte sich auch Merkels Verbündeter Markus Söder ein Stück weit von ihr abgewendet.
Merkel ging es jetzt zu schnell.
Merkel hatte eigentlich keine andere Wahl mehr, als sich dem zu beugen. Sie hat es versucht mit ein bisschen Schimpfen und indem sie dem Ministerpräsidenten ins Gewissen geredet hat. Aber das hat nichts gebracht. Sie selber, das hat sie immer wieder deutlich gemacht, wäre lieber vorsichtiger vorgegangen. Ihr ging es jetzt zu schnell.
Besteht nicht auch die Gefahr von Regeln, die sich widersprechen?
Klar, das kennen die Deutschen aber auch aus normalen Zeiten. Das ist ähnlich wie bei uns – etwa im Schulsystem gibt es extreme Unterschiede zwischen den Bundesländern. Somit kommen wir jetzt wieder zu einem normalen Status. Der einheitliche Lockdown war eher die Ausnahme.
Die Lockerungen können regional wegfallen, wenn ein Landkreis innert einer Woche mehr als 50 Neuinfektionen auf 100'000 Einwohner hat. Ganz abgeben will der Bund die Kontrolle also nicht?
Auf keinen Fall. Das ist Merkels As im Ärmel: Ein Rückfall führt automatisch zu Einschränkungen – aber eben nur lokal im betroffenen Landkreis und nicht im ganzen Land. Damit gibt es eine Art Prangerfunktion, das wird öffentlich wahrgenommen und die Ministerpräsidenten müssen dann auch die Verantwortung übernehmen.
Hat Merkel mit diesem Entscheid den Bundesländern den Segen geben, so weiterzumachen wie bisher?
Ja, die Einschränkung ist aber nicht so klein, wie sie scheint. Sie ist ziemlich schlau gemacht: Sie lässt den Bundesländern den Spielraum, den sie ohnehin nutzen, nimmt die Ministerpräsidenten aber in die Pflicht, wenn etwas schieflaufen sollte.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.