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Unicef-Direktorin Fore über dringend benötigte Hilfe in Jemen
Aus SRF 4 News aktuell vom 12.07.2018.
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Neue Direktorin des Unicef Haben Sie schlaflose Nächte, Henrietta Fore?

Seit rund einem halben Jahr ist sie im Amt: Henrietta Fore, Direktorin von Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Radio SRF hatte als erstes Schweizer Medium die Gelegenheit, die Amerikanerin zu treffen – zu einem Gespräch über ihre Arbeit, ihre Ziele und ihren Blick auf die Welt.

Henrietta Fore

Henrietta Fore

Unicef-Direktorin

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Die Amerikanerin Henrietta Holsman Fore ist seit Januar 2018 geschäftsführende Direktorin von Unicef, dem Kinderhilfswerks der UNO. Davor war sie unter anderem CEO der Investment- und Managementfirma Holsman, die ihrer Familie gehört.

SRF: Sie stehen seit Anfang Jahr an der Spitze von Unicef. Wie viele schlaflose Nächte haben Sie in dieser Zeit schon gehabt?

Henrietta Fore: Ich hatte tatsächlich einige – was aber nicht zuletzt an den vielen Reisen liegt. Du reist von einem Land zum anderen und denkst die ganze Zeit darüber nach, was du tun kannst. Wie kannst du noch besser helfen? Es ist mir ein grosses Anliegen, Unicef innovativer zu machen.

Wir arbeiten in humanitären Notsituationen. Und darum tun wir oft nur das, von dem wir wissen, dass wir es gut können – wir probieren wenig Neues aus. Sobald eine Krise ausbricht, sollten wir bereitstehen und reagieren. Darum wünsche ich mir mehr Innovation. Mittel und Wege, wie wir schneller reagieren und mehr Menschen erreichen können. Das ist es, was mich nachts wachhält.

Legende:
Herkunft der Gelder für Unicef in Millionen Dollar im Jahr 2016. Unicef wird ausschliesslich über freiwillige Beiträge finanziert. Unicef

Welche Länder oder Regionen stehen derzeit im Fokus der Unicef?

Jemen zum Beispiel. Dort war ich die letzten zwei Wochen. Die Vereinten Nationen sehen in Jemen die grösste humanitäre Krise, die sich zurzeit auf der Welt abspielt. 28 Millionen Menschen leben dort. 22 Millionen sind in Not; davon 11 Millionen Kinder – das sind mehr, als die Schweiz Einwohner hat.

Die Hälfte der Spitäler funktioniert nicht mehr. Über 1000 Schulen sind ausser Betrieb. Und immer mehr Menschen sind unterernährt. Wir waren im grössten Spital in der Hauptstadt Sanaa. Mütter haben Kinder dorthin gebracht, die sieben Monate alt waren, aber das Gewicht eines Neugeborenen hatten. Die Cholera ist ausgebrochen; es braucht frisches Wasser und bessere Hygiene.

Henrietta Fore spricht mit mehreren Männern in Anzügen
Legende: Henrietta Fore bei ihrem Besuch in Jemens Hauptstadt Sanaa mit lokalen Amtsträgern. Unicef

Das ganze Land hängt an einem hauchdünnen Faden. Dass überhaupt noch etwas funktioniert, ist den Vereinten Nationen und den Spendern zu verdanken, etwa der Weltbank oder auch der Schweiz. Jemen steht nicht mehr auf eigenen Beinen. Was das Land braucht, ist vor allem Frieden.

Jemen wird häufig als Beispiel genannt für einen Konflikt, den die Öffentlichkeit kaum auf dem Radar hat. Hat sich das nun geändert?

Ja, historisch gesehen ist Jemen ein vergessenes Land. Aber dass Jemen nun nicht komplett vergessen geht, ist den Medien zu verdanken. Sobald dieser Konflikt ins Rampenlicht gerückt wird, reagieren die Menschen – und spenden auch. Dann werden die guten, wohltätigen menschlichen Instinkte geweckt.

Aber es gibt so viele andere Gebiete, die tatsächlich vergessen gehen. Mali in Westafrika zum Beispiel ist eine wichtige Zone für Drogen- und Menschenhandel. Es gibt Zwangsheiraten von ganz jungen Mädchen, Armut, viel zu wenig Bildung, und eine Spirale der Gewalt, die sich immer weiterdreht.

Wenn sich Konflikte nicht vor unserer Haustür abspielen, neigen wir dazu, den Frieden, die Sorglosigkeit, die Sicherheit, die Tatsache, dass wir genug zu essen und zu trinken haben, als selbstverständlich wahrzunehmen.

Wenn die Medien über solche Situationen berichten, verändert das etwas. Die Schwierigkeit ist allerdings, dass die Zahl der Krisenherde immer weiter zunimmt. Heute gibt es pro Jahr weltweit 330 Krisen. Und auch die Grausamkeit und die Brutalität dieser Krisen nimmt immer weiter zu. Da ist es sehr schwierig, zu erreichen, dass die Spenden im gleichen Tempo ansteigen.

Sie haben die Möglichkeit, mit Menschen in Machtpositionen, aber auch mit Menschen aus bescheidenen Verhältnissen zusprechen. Haben Sie angesichts der zahlreichen Krisen Betroffenheit wahrgenommen?

Die Menschen machen sich schon Sorgen. Aber wenn sich diese Konflikte nicht vor unserer Haustür, nicht in unserem Land abspielen, neigen wir manchmal dazu, den Frieden, die Sorglosigkeit, die Sicherheit, die Tatsache, dass wir genug zu essen und zu trinken haben, als selbstverständlich wahrzunehmen.

Die meisten Krankheiten, an denen Kinder heute noch sterben – und es sterben immer noch rund fünf Millionen pro Jahr –, sind vermeidbar.

Erst wenn man zu reisen beginnt, wird einem bewusst, wie wenig andere haben. Dann will man helfen. Im Kern sind wir alle sehr menschlich.

Davon sind Sie also immer noch überzeugt, obwohl Sie durch Ihre Arbeit auch viel Tragisches, viel Grausames sehen?

Ja. Und ich glaube auch ganz fest daran, dass es immer eine Lösung gibt. Fortschritt ist möglich. Bei der Kindersterblichkeit zum Beispiel haben wir in den letzten 50 Jahren riesige Fortschritte gemacht. Wie haben wir das geschafft? Wir haben über Ernährung nachgedacht, über sauberes Wasser, über Hygiene. Wir haben angefangen, Speisesalz mit Jod anzureichern.

All das trägt Schritt für Schritt dazu bei, das Leben eines Kindes zu retten und es gesund aufwachsen zu lassen. Wenn wir das geschafft haben, schaffen wir fast alles. Die meisten Krankheiten, an denen Kinder heute noch sterben – und es sterben immer noch rund fünf Millionen pro Jahr –, sind vermeidbar. Wir kennen die Lösungen. Wir können es schaffen.

Legende:
In diese Regionen fliessen die Unicef-Gelder Aufwendungen in Millionen Dollar im Jahr 2016. Unicef

Nach Thailand. Gross war die Erleichterung, als die Rettung von zwölf Jugendlichen aus einer Höhle geglückt ist. Aber es gab auch Stimmen, die kritisierten, dass wir jeden Schritt dieser Rettung verfolgen, während allein dieses Jahr rund 2500 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind.

Nun, ich glaube, da ist die Rolle der Medien extrem wichtig. Worüber sie berichten, ist das, was wir anderen sehen und worüber wir nachdenken. Natürlich gilt: Jedes Leben ist wichtig.

Was ich aber sehr interessant fand: Die Rettungsaktion in Thailand ist dank einem Mix aus menschlichen Fähigkeiten und Technologie gelungen. Private Firmen entwickeln Technologien, in dem Fall Tauchausrüstungen und Atemluftflaschen. Und wenn man diese mit den richtigen menschlichen Fähigkeiten paart, kann man sehr viel erreichen. Wenn es uns gelingt, noch mehr solche Partnerschaften zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor zu schaffen, verändert das sehr viel.

Was tut Unicef in diesem Bereich? Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir arbeiten in der Schweiz mit mehreren Firmen zusammen. Eine davon ist Aldi Suisse, die in ein Programm in Malawi involviert ist. Es geht darum, Kindernahrung mit Spurenelementen anzureichern, was sehr wichtig ist für die körperliche Entwicklung. Wir engagieren uns auch für ein kinderfreundliches Umfeld, etwa für Kinderparlamente in der Schweiz. Bei solchen Projekten lernen Kinder, wie Gemeinschaften sich organisieren. Und das ist etwas, was man in jedem Land brauchen kann.

Palletten mit Kartons auf einem Schiff, Hilfslieferung mit Unicef angeschrieben
Legende: Um im Krisenfall rasch handeln zu können, müsse man innovativer werden, ist Fore überzeugt. Unicef

Unicef ist den Nachhaltigkeitszielen der UNO verpflichtet. Aber es ist Ihnen nicht möglich, zu kontrollieren, ob all die Produkte, die bei Aldi Suisse im Regal stehen, nachhaltig hergestellt wurden. Ist das nicht ein Dilemma?

Wir versuchen immer, Partner zu finden, die unsere Werte teilen; egal, ob das Unternehmen oder Regierungen oder Stiftungen sind. Überall auf der Welt gibt es unterschiedliche Gepflogenheiten. Das Wichtigste ist, dass wir den Kindern helfen. Es gibt viele Unternehmen, die auf Unicef zukommen, weil sie sich verbessern möchten. Sie wollen sicher sein, dass ihre Lieferketten kindgerecht sind.

Wir würden uns zum Beispiel wünschen, dass jedes grössere Unternehmen Schulen und Gesundheitseinrichtungen für seine Mitarbeiter anbietet. Wenn jemand auf uns zukommt, teilen wir sehr gern unser Wissen über diese Themen. Und es gibt viele Unternehmen, die sich darum bemühen.

Bevor Sie Direktorin von Unicef geworden sind, waren Sie Chefin von Holsman International, dem Investmentunternehmen Ihrer Familie. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht, die Ihnen heute nützlich sind?

In einem Familienunternehmen lernt man, dass Vertrauen das Ein und Alles ist. Und es geht um Effizienz, um die Zufriedenheit der Kundschaft. Es ist immer sehr schön, wenn man sieht, wie jemand dein Produkt in den Händen hält und seine Augen zu glänzen beginnen, weil er weiss, wozu dieses Produkt gut ist.

Meine Mutter stammt aus St. Gallen. Sie hat mir beigebracht, dass man die Welt nicht nur mit den Augen betrachten soll, sondern auch mit dem Herzen.

Genauso ist es auch, wenn wir Impfstoff oder Esswaren verteilen: Die Augen der Mütter glänzen – und sie sind unsere Kundinnen in diesem Moment. Ich habe übrigens noch einen zweiten Nachnamen – und zwar Hugentobler: Meine Mutter stammt ursprünglich aus St. Gallen. Sie hat mir beigebracht, dass man die Welt nicht nur mit den Augen betrachten soll, sondern auch mit dem Herzen.

Als Sie für den Posten nominiert wurden, gab es auch kritische Stimmen, die fragten, ob jemand, der aus diesem profit-orientierten Milieu komme, die richtige Person sei für diesen Job bei Unicef. Was entgegnen Sie da?

Ich habe 40 Jahre lang sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor gearbeitet. Und ich glaube, man kann von beiden etwas lernen. Wenn wir stärker zusammenarbeiten würden, wäre eine nachhaltige Welt möglich.

Mir geht es am Ende immer um die Menschen, egal, in welcher Organisation ich arbeite. Wenn unsere Mitarbeiter bei Unicef sowohl den privaten wie auch den öffentlichen Sektor auf dem Radar haben – und vor allem immer an die Kinder denken –, dann können wir sehr viel erreichen.

Legende:
In diese Programme fliessen die Unicef-Gelder Aufwendungen in Millionen Dollar im Jahr 2016. Unicef

Sie sehen Ihre Rolle als Unicef-Direktorin also darin, diese Verbindung zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand weiter zu stärken?

Ja. Und ich bin überzeugt, dass es für die Vereinten Nationen immer wichtiger wird, sich gegenüber der Privatwirtschaft zu öffnen. Pro Jahr kommen weltweit rund eine Viertelmilliarde Kinder zur Welt, die bei ihrer Geburt keine Identität haben, keine Dokumente. Wir haben seit Kurzem die Möglichkeit, mit einer Smartphone-App ein Foto eines Neugeborenen zu machen und diesem Kind damit eine Identität zu geben: Es hat einen Namen, einen Geburtsschein.

Das verändert alles für diese Kinder. Sie wissen, woher sie kommen und wann sie geboren wurden, sie können zur Schule und eines Tages ein Bankkonto eröffnen. Sie haben eine Chance. So etwas wäre nicht möglich, wenn wir nicht mit privaten Partnern zusammenarbeiten würden. Darum hoffe ich, dass ich eine Brücke bilden kann, so dass wir das Beste aus der Privatwirtschaft und den internationalen Organisationen herausholen – zu Gunsten der Kinder.

Das Gespräch führte Melanie Pfändler.

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Fore: Partnerschaften zwischen privatem und öffentlichem Sektor
aus SRF 4 News aktuell vom 13.07.2018.
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