«Aktion 1005» nannten die Nationalsozialisten die Beseitigung der Massengräber in den von Deutschen besetzten Gebieten Europas. Sie liessen dabei die Leichen ihrer Opfer verbrennen, um später nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Der deutsche Historiker Andrej Angrick hat das bisher wenig bekannte Kapitel aufgearbeitet. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb über das 1400-seitige Grundlagenwerk: «Das Buch führt den Leser in eine Nacht ohne Morgen in eine Dunkelheit ohne Licht. Seine Lektüre verändert den Blick auf die Welt.»
SRF News: Die Beseitigung von Massengräbern begann 1942. Was war das Motiv?
Andrej Angrick: Erstens vertuschen, damit die Weltöffentlichkeit davon nicht erfährt. Auch befürchtete man, dass dadurch die Widerstandskraft der Alliierten gestärkt wird oder dass neutrale Staaten ihre Neutralität zugunsten des Dritten Reiches aufgeben könnten. Zweitens musste man frühzeitig befürchten, dass die Kriegsverbrechen auch strafrechtlich verfolgt werden könnten. Drittens war es ein Handicap im Propagandakampf insbesondere gegen die Sowjetunion, der es immer wieder gelang, neue Orte von Massenverbrechen aufzuzeigen.
Wie gingen die Nazis bei der Vernichtung der Beweise vor?
Es sollten alle verfänglichen Dokumente wie Papiere oder Fotografien über die Massenverbrechen eingezogen und zerstört werden. Ebenso klar war, dass die Tatorte komplett verschwinden mussten. Dass hiess: Die Massengräber wiederfinden, die Leichen herausholen und sie zerstören. Verbrennen genügte nicht. So wurden die Leichen geborgen, gestapelt und verbrannt. Was an Knochen übrigblieb, wurde zermahlen und in umliegenden Wäldern oder Flüssen verstreut.
Wer musste diese Arbeit verrichten?
Es waren entweder jüdische Überlebende, die man aus den Ghettos oder Konzentrationslagern holte. Es gab aber auch sowjetische Kriegsgefangene. Roma wurden ebenso dazu gezwungen. Es wurden aber auch Menschen von der Strasse verhaftet, die etwa die Sperrstunde missachtet hatten.
Haben die Menschen etwas gemerkt, die in der Umgebung der Tatorte lebten?
Meistens. Nachts brannten die Feuer. Ein unerträglicher Gestank lag in der Luft. Angesengte Haare flogen teilweise kilometerweit durch die Nacht. Man merkte in der näheren Umgebung also, was geschah, auch wenn die Gelände gesichert waren und die dort Arbeitenden Todeskandidaten waren, die nach den Plänen der Täter nach zwei Wochen zu ermorden waren. Dies liess sich aber so nicht realisieren, weil man für das Unterfangen auf erfahrene Häftlingsarbeiter angewiesen war.
Wie gelangten Sie an die Dokumente?
Aus der Zeit gibt es ungefähr zehn Dokumente, die sich im engeren Sinn mit der «Aktion 1005» beschäftigen. Es sind aber eher Bruchstücke. Da steht zum Beispiel «1005» in Verbindung mit ein paar Autokennzeichen aus dem Fuhrpark der Täter. Daraus lässt sich schliessen, dass sie zu diesem Zeitpunkt vor Ort waren, in diesem Fall in Tallinn. Was dort geschah, ist damit nicht geklärt.
Über die Täter und den Umfang des Verbrechens konnte man nur etwas in Erfahrung bringen, weil einige Häftlinge flüchten und bei Gerichten Zeugnis ablegen konnten. Dazu kamen umfangreiche Ermittlungen deutscher Staatsanwaltschaften und Untersuchungen der historischen Kommissionen in der Sowjetunion, in Polen und in Jugoslawien.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.