SRF News: 270 Personen stehen im türkischen Izmir wegen des Putschs vom vergangenen Juli vor Gericht. Wer sind diese Leute?
Louise Sammann: Die meisten sind Militärs, darunter viele hochrangige frühere Armeeangehörige. Alle Angeklagten werden beschuldigt, zur verbotenen Gülen-Bewegung zu gehören und im vergangenen Juli am vereitelten Putsch beteiligt gewesen zu sein. Da die Gülen-Bewegung als Terrorgruppe gilt, wird den Angeklagten auch vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein.
Wird bei dem Prozess jeder der 270 Fälle einzeln verhandelt?
Ja. Jeder Angeklagte erhält einen eigenen Prozess. Insofern ist es etwas irreführend, wenn jetzt von «einem» Prozess gegen 270 Angeklagte gesprochen wird. Trotzdem gehören alle diese Verfahren in die Gesamtakte des Putschversuchs. Weil es so viele Einzelprozesse sind, ist die Verfahrensdauer auf zwei Jahre angesetzt.
Rigoroses Vorgehen gegen Gülen-Anhänger
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht seinen früheren Verbündeten, den seit Jahren in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen, für den gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Entsprechend fordert Erdogan von den USA die Auslieferung Gülens. In Izmir ist nun auch der Prediger selber wegen des Putschs angeklagt – in Abwesenheit. Seit dem Umsturzversuch sind in der Türkei mehr als 43'000 Militärangehörige, Polizisten, Beamte und Justizmitarbeiter unter dem Vorwurf verhaftet worden, zur Gülen-Bewegung zu gehören. Zudem wurden fast 95'000 Staatsbedienstete entlassen, weil sie Anhänger Gülens sein sollen. |
Nach dem Putschversuch wurden bislang mehr als 43'000 Personen verhaftet. Die meisten von ihnen warten noch immer auf ihren Prozess. Werden all die anstehenden Gerichtsverhandlungen fair ablaufen?
Nein, das ist nicht zu erwarten. Sogar im Justizministerium sagen kritische Stimmen hinter vorgehaltener Hand, dass es in der Türkei derzeit nirgends mehr faire Prozesse gebe. Das beginnt damit, dass die Inhaftierten monatelang auf ihren Prozess warten müssen und in den ersten Tagen der Haft keinen Zugang zu ihren Anwälten haben,. Zudem werden Gespräche zwischen Anwälten und Angeklagten im Gefängnis aufgezeichnet. Das grösste Problem aber ist der Druck, der auf allen an den Prozessen Beteiligten lastet. Sie müssen fürchten, auf der falschen Seite zu stehen – oder schon nur so zu wirken, als könnten sie auf der falschen Seite stehen. Wenn ein Richter etwa einen angeblichen Gülen-Anhänger freispricht, könnte man vermuten, er sei selber ein solcher. Dieser Druck sorgt für eine allgemeine Befangenheit. Das ist eine äusserst schlechte Voraussetzung für faire Prozesse.
In der Türkei gibt es derzeit wohl nirgends mehr faire Prozesse.
Wovor müssen sich die an den Prozessen beteiligten Richter und Staatsanwälte genau fürchten?
Derzeit muss in der Türkei jeder, der ein positives oder auch nur verteidigendes Wort über Gülen fallen lässt, damit rechnen, selber als Gülenist – und damit als potenzieller Terrorist – dazustehen. Das sorgt nicht nur in der Bevölkerung, sondern vor allem auch im Justizapparat für einen grossen Druck. So sagte mir ein Anwalt, befördert werde nur noch, wer sich ganz klar auf die Seite der Regierung und in jeder Beziehung gegen die Gülen-Bewegung stelle. Wenn sich ein Richter in einem Prozess gegen einen angeblichen Gülenisten also nicht klar gegen die Bewegung stellt, könnte das seine nächste Beförderung torpedieren. Ein anderes Beispiel: Bei den jetzigen Prozessen in Izmir getrauen sich die Angehörigen der Angeklagten offenbar kaum, der Verhandlung beizuwohnen. Auch sie befürchten, als Unterstützer des Putsches in Verdacht zu geraten, weil sie zu ihren Angehörigen stehen. Es ist eine sehr verworrene und belastete Situation. Erdogan hat gesagt, das Abwehren des Putschversuchs sei für das türkische Volk und seine Anhänger eine Art Befreiungskrieg gewesen. Viele der Regierung nahestehende Richter sehen die jetzigen Prozesse denn auch als eine Art Weiterführung dieses Befreiungskriegs gegen das Gülen-Netzwerk. Wenn Gerichtsprozesse als Teil eines Krieges empfunden werden, wird deutlich, wie gross die Angst und der Druck sind, auf der falschen Seite zu stehen.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.