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Parlamentswahlen mit E-Voting Estland als Trendsetter

Am Sonntag waren eine knappe Million Esten aufgerufen, ein neues nationales Parlament zu wählen. So klein der EU-Mitgliedsstaat im Nordosten Europas auch sein mag, die frühere Sowjetrepublik gilt wegen ihrer Geschichte und Struktur in den letzten 30 Jahren als interessanter Trendsetter.

Abstimmung im Internet

Es beginnt schon beim Wahlprozedere. Fast die Hälfte der Esten hatten ihre Stimme für das neue Parlament schon vor Wochen abgegeben, als die elektronische Wahlurne geöffnet wurde. Was in der Schweiz umstritten ist – das E-Voting – gehört in Estland schon seit 15 Jahren zum politischen Alltag.

Die Stimmbürger vertrauen der elektronischen Stimmabgabe nicht zuletzt deswegen, weil sie beliebig oft abstimmen können – denn es zählt nur die zuletzt abgegebene Stimme.

Sprachliche Konflikte

Schwerer als mit dem E-Voting tat sich Estland lange mit dem demografischen Erbe der sowjetischen Okkupation, die fast ein halbes Jahrhundert dauerte. Zwischen 1944 und 1989 kamen sehr viele Menschen ins Land, die sich bis heute nicht in der Landessprache verständigen können.

Fast drei Jahrzehnte lang prägte deshalb die sprachliche Konfliktlinie die politische Landschaft: Auf der einen Seite stand die rechte Reformpartei, welche Estland lange regierte und in einen neoliberalen Vorzeigestaat mit Einheitssteuer und minimaler sozialer Absicherung verwandelte; auf der anderen Seite die eher linke Zentrumspartei, welcher nicht zu Unrecht eine Nähe zu Wladimir Putins Russland nachgesagt wurde.

Junge verliessen das Land

So verwandelte sich Estland in den Jahren nach dem Beitritt zur EU und zur Nato 2004 in die am meisten digitalisierte Gesellschaft Europas; Tallinn wurde zu einem wichtigen Finanzplatz. Doch gleichzeitig blieben viele Menschen von diesen modernen Veränderungen ausgeschlossen; Zehntausende gut ausgebildeter junger Esten wanderten aus.

Ein gigantischer Geldwäschereiskandal erschütterte den neoliberalen Regierungskurs, die oppositionelle Zentrumspartei unterzeichnete ein Freundschaftsabkommen mit Putins Partei «Vereinigtes Russland».

Doch dann gelang der kleinsten baltischen Republik in den letzten vier Jahren einmal mehr ein gesellschaftliches Kunststück: Wie schon zwischen 1989 und 1992 fand eine friedliche, demokratische Revolution statt. Die alte politische Garde wurde von jüngeren Kräften in die Wüste geschickt, ideologische Dogmen wurden über Bord geworfen.

Ausgewanderte kehren zurück

In den letzten zwei Jahren näherten sich die beiden grössten politischen Parteien des Landes an. Estland ist auf gutem Weg, sich in einen modernen Wohlfahrtsstaat zu entwickeln. In der Folge kehren nun erstmals seit der Unabhängigkeit 1991 viele ausgewanderte Esten wieder zurück.

Gut möglich, dass die Reform- und die Zentrumspartei nach den heutigen Wahlen erstmals eine grosse Koalition eingehen könnten – und damit auch ein politisches Signal nach Europa senden.

Bruno Kaufmann

Nordeuropa-Korrespondent

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Bruno Kaufmann berichtet seit 1990 regelmässig für SRF über den Norden Europas, von Grönland bis Litauen. Zudem wirkt er als globaler Demokratie-Korrespondent beim internationalen Dienst der SRG mit.

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