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Proteste der «Gilets Jaunes» «Einige Linke sitzen einer Revolutionsromantik auf»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat schon vieles versucht, um die teils gewalttätigen Proteste der Gelbwesten einzudämmen. Seit über zwei Monaten gehen die «Gilets Jaunes» auf die Strasse. Sie fordern vieles, von mehr Lohn über Steuersenkungen bis zu mehr politischer Mitsprache. Macron hat zuerst Härte signalisiert, es dann mit Zugeständnissen versucht und nun wieder härtere Gesetze gegen Demonstrationen angedroht.

Jürgen Ritte

Kulturwissenschaftler

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Jürgen Ritte, geboren 1956 in Köln, ist Kulturwissenschaftler an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris.

SRF News: Macron packt den Knüppel wieder aus. Haben Sie Verständnis dafür?

Jürgen Ritte: Nicht nur ich, viele Franzosen haben Verständnis dafür. Wenn jede Woche 80’000 Polizisten in Frankreich mobilisiert werden müssen und jedes Mal ein Bild der Verwüstung entsteht, dann kann man dafür nur wenig Sympathie haben.

Ist das ein Entgegenkommen gegenüber der Polizei?

Ganz gewiss. Die Gewerkschaft hatte sich schon über die nicht mehr abzubauenden Mengen an Überstunden beschwert. Es ist eine gewisse Ermüdung bei der Polizei spürbar. Sie sieht sich permanenten physischen Angriffen ausgesetzt. Da sind Grenzen überschritten, die sich kein Staat gefallen lassen kann.

Polizist neben brennendem Auto
Legende: «Bei der Polizei ist eine gewisse Ermüdung spürbar», sagt Jürgen Ritte. Reuters

Und doch hat die Regierung mehr Polizeipräsenz angedroht.

Es muss erst einmal dafür gesorgt werden, dass die unmittelbar bevorstehenden Demonstrationen weiterhin eingerahmt werden. Aber man muss mit dem Mittel dieses Gesetzes versuchen, das Ganze grundsätzlich zu glätten und Gewalttäter auszuschliessen.

Man kann nicht von Inkonsequenz sprechen, wenn die Regierung gegen Gewalt vorgeht.

Wird es damit gelingen, die Proteste einzudämmen?

Es geht nicht um die Proteste. Die Gelbwesten dürfen demonstrieren, wenn sie angemeldete Demonstrationen durchführen wollen. Das ist ein demokratisch verbrieftes Recht, das Macron und Édouard Philippe in keiner Weise infrage stellen. Die von Anfang an nicht eindeutige Haltung der Gelbwesten zu den Gewaltexzessen ist aber problematisch.

Erkennen Sie bei dem Hin und Her der Regierung noch eine Strategie?

Das ist der übliche Verlauf in Frankreich, wenn es soziale Konflikte gibt: Jeder zeigt erst einmal seine Muskeln und dann wird geredet. Das ist ganz anders als in Konsensländern wie Deutschland oder der Schweiz. Macron hat schliesslich eingelenkt. Er hat auf einige Forderungen reagiert und verspricht eine institutionelle Reform. Das hat aber die Gewaltexzesse nicht eindämmen können. Man kann nicht von Inkonsequenz sprechen, wenn die Regierung gegen Gewalt vorgeht.

Gilets Jaunes vor dem Arc de Triomphe umgeben von Rauch
Legende: Bei den Gelbwesten sei auch Antisemitismus vorzufinden, so Ritte. Getty Images

Es gibt Linke wie Rechte, die sich hinter die Gelbwesten gestellt haben. Finden Sie nicht, dass die Proteste legitim sind?

In der Tat nicht. Ich vermute, diese linken Intellektuellen unterliegen einem fatalen Irrtum. Sie glauben, es handle sich um einen klassischen sozialen Protest, der mehr Geld oder Entlastungen einfordert – was vollkommen legitim ist. Aber die Gelbwesten sind von ganz anderen Beweggründen motiviert.

Einige linke Intellektuelle vergessen, dass Proteste nicht immer in der Fortsetzung von 1789 stattfinden.

Sie finden in der Bewegung wenig Jugendliche aus der Banlieue und auch keine Bauern. Was Sie aber sehr wohl finden, ist ein furchtbarer Antisemitismus. Einige linke Intellektuelle leben noch in der Revolutionsromantik und vergessen, dass Proteste nicht immer in der Fortsetzung von 1789 stattfinden. Sie finden genauso auf rechtsradikaler Seite statt – gerade in Frankreich.

Kommt Macron aus der Sache wieder raus?

Ich denke schon, bin aber kein politischer Kaffeesatzleser. Wir haben am letzten Samstag nur noch einige Hundert Demonstranten auf den Champs-Élysées gehabt. Es ist eine Bewegung, die im Abflauen begriffen ist. Und ich denke, sie wird auf die Dauer ganz verschwinden.

Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.

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