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Proteste in Irak «Auch Familien und ältere Leute gehen auf die Strasse»

«Wir sind alle Iraker!», skandieren die Menschen in Irak und gehen zu Tausenden auf die Strasse. Sie fordern den Sturz der Eliten, ein Ende der Korruption. Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner erstaunt vor allem der Mut der Demonstranten.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Susanne Brunner und Informationen zu ihrer Person.

SRF News: Was passiert derzeit in Irak?

Susanne Brunner: Meine Kontaktpersonen in Bagdad erzählen mir, dass nun offenbar auch Familien mit ihren Kindern und ältere Leute auf die Strasse gehen. Dies, obwohl die Sicherheitsbehörden Tränengas einsetzen und in den letzten Tagen und Wochen viel Gewalt ausgeübt wurde. Ein Student aus Bagdad hat mir heute erzählt, die jungen, gebildeten Leute gingen zusammen mit ärmeren, jungen Menschen, die nicht das Privileg haben, an der Universität zu studieren, auf die Strasse. Es scheint tatsächlich ein recht breites Spektrum der Bevölkerung an den Protesten teilzunehmen.

Das Land ist politisch und religiös gespalten. Erstaunt Sie diese Einigkeit?

Die Einigkeit erstaunt mich weniger als die Furchtlosigkeit. Als ich letztmals in Bagdad war, erzählten mir junge Leute, dass sie nur selten abends ausgingen, weil sie Angst vor Gewalt hätten. Aber alle haben dieselben Sorgen. Sie haben kein Geld, um Schäden in der Wohnung zu reparieren oder für neue Kleider.

Es muss mehr in die Infrastruktur investiert werden. Ebenso braucht es eine diversifiziertere Wirtschaft.

Hinzu kommt die Korruption. Dass alle davon genug haben, ist nicht erstaunlich. Erstaunlich ist aber ihr Mut, denn immerhin wurden bei Protesten im ganzen Land Tausende verletzt und über 200 Menschen getötet.

Wie sind die Lebensumstände, welche die Menschen auf der Strasse beklagen?

Mir fiel immer wieder auf, wie wenig Geld die meisten Leute auf sich tragen. Aber noch auffallender ist, dass die meisten sich nicht einmal besonders über mangelnde Arbeit oder Geld beklagen, sondern vor allem über die Korruption. Und die ist im Alltag überall spürbar. Über die Hälfte des gesamten Haushaltsbudgets fliesst in die Löhne, Renten und Sozialleistungen der Verwaltungsangestellten. In die Infrastruktur wird nur ein Bruchteil davon investiert.

Die Menschen wissen, dass es ihnen trotz Krisen besser gehen könnte, wenn ihre Politiker einfach redlicher und kompetenter wären.

Dabei wurden viele Städte und Dörfer im Kampf gegen den IS zerstört. Es muss also mehr in die Infrastruktur investiert werden. Ebenso braucht es eine diversifiziertere Wirtschaft. Irak hängt zu 90 Prozent vom Öl ab.

Die Leute fordern einen Sturz der Regierung. Was ist da zu erwarten?

Heute hat der irakische Staatspräsident bekannt gegeben, dass Premierminister Adil Abd al-Mahdi zurücktreten werde, wenn ein geeigneter Nachfolger gefunden sei. Der Rücktritt des Premiers, der erst ein gutes Jahr im Amt ist, wird unmittelbar nichts verändern. Was die Demonstrierenden fordern, ist eine Regierung, die nicht aus Politikern besteht, die nur für sich und ihre Klientel sorgen. Sie wollen eine Regierung von Experten, die wissen, wie man einen Staatshaushalt führt, wie man ein Kraftwerk baut, wie man die Infrastruktur flickt, und die das Geld auch an den richtigen Ort fliessen lassen.

Iran zunehmend unter Druck

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Khamenei
Legende: Keystone

Irak und Libanon sind strategische Schlüsselstaaten für die islamische Republik Iran. Sie nimmt Einfluss auf die Politik in den Ländern, direkt oder via Milizen. Entsprechend besorgt beobachtet man in Teheran die Proteste.

Revolutionsführer Ayatollah Khamenei diskreditierte das Aufbegehren der Massen. Die USA und ihre Verbündeten stünden hinter den Protesten. Diesmal verfängt sein Argument aber weniger als sonst. Zu offenkundig stehen die hausgemachten Probleme im Vordergrund.

In den Strassen entlädt sich vor allem die Wut über die eigene Politikerklasse und deren jahrzehntelange schamlose Bereicherung. In Irak richtete sich die Wut der Massen teils sogar direkt gegen das iranische Regime, das hinter den Kulissen Einfluss auf die Bagdader Politik nimmt.

Khamenei schlug vor, Libanon und Irak sollten sich ein Beispiel daran nehmen, wie Iran auf Proteste reagierte, nämlich mit Repression. In Irak wurde in den letzten Wochen vielfach auf Demonstrierende geschossen. In Libanon verlief die Bewegung bisher weitgehend friedlich. (schp)

Auch in Libanon gibt es eine Protestbewegung, die sich gegen die korrupte Elite auflehnt. Sehen Sie Parallelen zwischen Irak und Libanon?

Ja, die Forderungen der Demonstrierenden ähneln sich. Sie sind auf die Wirtschaft, die Korruption und das politische System fokussiert. Vor allem aber haben sie den Wunsch nach einer korruptionsfreien und gut verwalteten Wirtschaft. Und der ist nicht nur in Libanon und Irak hörbar, sondern in der ganzen Region. Die Menschen wissen, dass es ihnen trotz Krisen besser gehen könnte, wenn ihre Politiker einfach redlicher und kompetenter wären.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

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