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Prozess gegen Adolf Eichmann «Der Eichmann-Prozess war eine kollektive Therapie für Israel»

Wie hat dieser Prozess gegen Adolf Eichmann den jungen Staat Israel geprägt? Wie hat die israelische Gesellschaft diesen Prozess erlebt? Davon kann der israelische Historiker Tom Segev berichten. Er erinnert sich an die Tage, als der Mossad Adolf Eichmann in Argentinien aufspürte und nach Israel entführte. Die ganze Aufregung um den Auftakt des Prozesses in Jerusalem erlebte er hautnah mit.

Tom Segev

Historiker und Journalist

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Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren. Seine Eltern, ein Architekt und eine Fotografin, waren 1933 aus Nazi-Deutschland nach Palästina geflohen. Segev studierte Geschichte und promovierte mit einer Arbeit über die Geschichte von KZ-Kommandanten. Neben seiner Tätigkeit als Historiker arbeitet er als Journalist – auch in Deutschland und der Schweiz. Segev lebt in Jerusalem.

SRF News: Wie war das, als sie als Jugendlicher erfuhren, dass Adolf Eichmann in Argentinien verhaftet wurde und nach Israel gebracht wurde zum Prozess?

Tom Segev: Als Eichmann verhaftet wurde, war ich 16 Jahre alt und ich war wie alle anderen Israelis sehr aufgeregt. Aber zunächst nicht unbedingt, weil es sich um einen grossen Nazi-Verbrecher handelte, sondern weil es eine israelische Geheimaktion war, die wir sehr heldenhaft fanden. Für uns war das eine grosse Heldentat.

Als der Prozess dann anfing, war ich sehr gefesselt davon. Ich hatte mich früher schon für Nazi-Deutschland interessiert, meine beiden Eltern sind aus Deutschland geflohen. Aber ich war noch zu jung, um Eintritt in den Gerichtssaal zu bekommen. Es wurde aber übertragen in einen anderen Saal und ich habe oft die Schule geschwänzt, um in dem Saal zu sitzen und mir alles genau anzuhören. Das war schon ein sehr, sehr grosses Erlebnis für ganz Israel.

Vor dem Eichmann-Prozess war der Holocaust in Israel eigentlich ein Tabu-Thema.

Wie lässt sich die Stimmung beschreiben bei diesen Prozessanhörungen, auch in den Nebensälen – was hat dieser Prozess in der israelischen Gesellschaft ausgelöst?

Um die Stimmung am Eichmann-Prozess zu verstehen, muss man wissen, was vorher war. Vorher war der Holocaust in Israel eigentlich ein Tabu-Thema. Eltern haben ihren Kindern nichts erzählt, Kinder haben nicht gewagt zu fragen. Es gab viel Scham, Scham der Überlebenden. Man hat ihnen nachgesagt, dass sie wahrscheinlich auf Kosten von jemand anderem überlebt haben, man kritisierte sie dafür, dass sie sich nicht gewehrt haben und so weiter. Und irgendwie einigte man sich, dass am besten gar nicht davon gesprochen wird.

Israel verstand sich von da an als das Land der Holocaust-Überlebenden.

Der Eichmann-Prozess wirkte auf die israelische Gesellschaft wie eine kollektive Therapie. Auf einmal war das Thema zu besprechen, auf einmal hat man Holocaust-Überlebenden überhaupt zugehört und ihnen erstmals geglaubt. Mit dem Prozess hat Israel begonnen, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen – in einer bestimmten politischen Richtung, die vom Staatsgründer und ersten Ministerpräsidenten David Ben Gurion diktiert wurde. Ben Gurion war an Eichmann eigentlich gar nicht so interessiert, aber er war sehr interessiert an dem Prozess. Denn er war der Ansicht, dass Israel eine vereinigende, grosse geistig-politische Erfahrung brauchte. Denn die israelische Gesellschaft war damals sehr gespalten.

Eine Schlüsselfigur des Holocausts wurde in Jerusalem vor Gericht gestellt. Was bedeutete das für den noch jungen Staat Israel, dieses Land im Aufbruch?

Man kann sagen, dass angefangen mit dem Eichmann-Prozess, der Holocaust das geworden ist, was er heute noch ist, nämlich ein sehr zentrales Element der israelischen Identität. Mit dem Eichmann-Prozess entstand das Selbstverständnis, Nachfolger der Holocaust-Opfer zu sein.

Israel hat sich von da an als das Land der Überlebenden verstanden. Und das wurde Teil der israelischen Identität – denn Israel war in den Anfangsjahren noch sehr gespalten. Die meisten Israelis waren ja Immigranten – aus hundert Ländern kamen sie und hundert Sprachen sprach man in Israel. Ministerpräsident David Ben Gurion war der Ansicht, dass Israel eine vereinigende, grosse geistige Erfahrung durchmachen sollte, wie zum Beispiel so ein Prozess, in dem der Holocaust aufgearbeitet wird und der gleichzeitig Teil einer vereinigenden israelischen Identität wird.

Wie präsent ist der Eichmann-Prozess heute noch im kollektiven Bewusstsein?

Es gibt jedes Jahr einen Holocaust-Gedenktag in Israel und da kann man annehmen, dass also mindestens einmal im Jahr Teile von dem Prozess im Fernsehen ausgestrahlt werden. Es ist zweifellos so, dass sehr viele Menschen in Israel den Holocaust mit dem Eichmann-Prozess identifizieren. Er ist ein zentraler Erinnerungsmoment in Israel geblieben – bis heute.

Das Gespräch führte Marlen Oehler.

Der Prozess gegen Adolf Eichmann

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Szene aus dem Prozess.
Legende: Keystone

Das Hauptverfahren im Prozess gegen Adolf Eichmann begann am 11. April 1961 im Haus des Volkes im Zentrum Jerusalems. Vorsitzender Richter war Moshe Landau, die weiteren Richter Benjamin Halevi und Yitzhak Raveh. Geschworene gab es keine.

Hauptankläger war der Generalstaatsanwalt Gideon Hausner. Grundlage der Anklage und der Verurteilung Eichmanns war das 1950 in Israel veröffentlichte Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern. Nach neunmonatigen Ermittlungen wurde die Anklage gegen Eichmann in 15 Punkten beim zuständigen Bezirksgericht in Jerusalem erhoben: wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation.

1600 Dokumente legte die Anklage vor, vor allem sichergestellte Akten aus dem damaligen Auswärtigen Amt in Berlin bei Kriegsende. Weitere Beweise lieferten die rund 100 Zeuginnen und Zeugen, die meisten Überlebende des Holocausts. Ausserdem wurden diverse eidesstattlich versicherte Zeugenaussagen verlesen von Zeugen, die nicht persönlich erschienen waren aus Sorge, sie könnten in Israel ebenfalls strafrechtlich belangt werden.

Die Verteidigung von Adolf Eichmann übernahm im Juni 1960 auf Wunsch seiner Familie der Kölner Rechtsanwalt Robert Servatius, der bereits mehrere Angeklagte in den Nürnberger Prozessen verteidigt hatte.

Die Urteilsverkündigung erfolgte am 121. Sitzungstag, am 15. Dezember 1961, mit dem Ausspruch der Todesstrafe. Das Gericht kam zum Schluss, dass Adolf Eichmann eine führende Rolle bei der Planung, Organisation, Ausführung und Überwachung des Holocausts zukomme und er eine treibende Kraft bei der «Endlösung der Judenfrage» war.

Eichmann und sein Anwalt legten am 17. Dezember Berufung ein, doch das Urteil wurde vom Obersten Gericht in Israel bestätigt. Ein Gnadengesuch wurde abgelehnt.

In der Nacht zum 1. Juni 1962 wurde Eichmann durch den Strang hingerichtet. Eichmanns Leichnam wurde verbrannt, seine Asche im Mittelmeer ausserhalb der israelischen Hoheitsgewässer ins Mittelmeer zerstreut. Es sollte verhindert werden, dass sein Grab zur Gedenkstätte würde.

Zeitblende, 3.4.21 ; 

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