Die humanitäre Hilfe ist unter Druck – und damit auch ihr wichtigster Akteur, die internationale Rotkreuzbewegung mit dem IKRK und der Föderation der nationalen Rotkreuzgesellschaften. IKRK-Präsident Peter Maurer macht deutlich, dass die Umsetzung der Genfer Konventionen nicht verhandelbar ist.
SRF News: Humanitäre Organisationen sind herausgefordert. Es gibt immer mehr und vor allem immer mehr sehr langwierige Konflikte – Afghanistan, Jemen, Syrien. Zugleich steht das humanitäre Kriegsvölkerrecht unter Druck. Erwarten Sie da von der Rotkreuzkonferenz Verbesserungen?
Peter Maurer: Zumindest sitzen hier die Richtigen zusammen. Es ist schon eine eindrückliche Versammlung, wenn die Vertreter aller Unterzeichnerstaaten der Genfer Konventionen mit den Vertretern der mehr als 190 Rotkreuzgesellschaften diskutieren. Und ein minimaler Konsens unter jenen herausgearbeitet werden kann, die sich mit humanitärer Hilfe beschäftigen.
Sie sprechen von einem Minimalkonsens. Gibt es diesen überhaupt noch?
Es gibt ihn zwischen den Staaten. Aber es gibt ihn nicht unbedingt zwischen den Kriegsparteien in den schwierigsten Konflikten heute.
Was lässt sich da tun?
Da sind wir als IKRK sehr gefordert. Wir müssen versuchen, den Konsens über das humanitäre Kriegsvölkerrecht und die humanitäre Hilfe wiederherzustellen. Wir müssen versuchen, mit allen Akteuren, staatlichen und nichtstaatlichen, in Konfliktgebieten zu reden. Wir befinden uns heute in der schwierigen Lage, dass es zwar noch einen gewissen Konsens gibt, dieser aber nicht ausreicht, um im Feld die gewünschte Wirkung zu entfalten.
War es früher besser?
Nicht unbedingt. Auch IKRK-Gründer Henri Dunant hatte schon vor 156 Jahren mit dem Problem zu kämpfen, dass im Kriegsfall die Emotionen zwischen Völkern oder Teilen einer Gesellschaft so hoch gehen, dass es schwierig ist, unabhängig humanitäre Hilfe zu leisten.
Aber die Situation ist seither eher noch schwieriger geworden…
Wir sehen heute Stigmatisierungen von Bevölkerungen. Wir sehen Ausgrenzungen. Wir sehen Staaten, die zwar humanitäre Hilfe leisten, aber nur an gewisse Gruppen. Wir sehen Staaten, die sich entschieden widersetzen, wenn humanitäre Hilfe in Oppositionsgebiete fliessen soll und entsprechend die Tätigkeit unabhängiger Hilfsorganisationen behindern. Wir sehen alle möglichen Schranken, die den Raum begrenzen, den wir uns wünschen, um unparteiisch, neutral helfen zu können.
Auch die Antiterrormassnahmen in sehr vielen Staaten haben zu Einschränkungen für unsere Tätigkeit geführt. Selbst rechtsstaatliche Regierungen in freien Ländern beginnen davon zu reden, dass einem verletzten Terroristen allenfalls keine Hilfe geleistet werden sollte.
Es scheint, dass auch zunehmend die Unparteilichkeit des IKRK angezweifelt wird – was dazu führt, dass IKRK-Mitarbeiter nicht mehr als unantastbar gelten, sondern bisweilen sogar gezielt angegriffen werden, weil sie helfen…
Das ist tatsächlich so. Es ist für uns sehr schwierig, aber zwingend nötig, immer wieder zu versuchen, in Kontakt mit sämtlichen Kriegsparteien zu treten. Um ihnen darzulegen, was wir genau machen und warum – und dann deren Zustimmung dafür zu erhalten.
Hinzu kommt: In heutigen Konflikten sind die Kriegsparteien oft nicht mehr Staaten, welche die Genfer Konventionen unterzeichnet haben, sondern Milizen, Terrorgruppen oder Söldner, die das nicht taten. Fühlen die sich überhaupt daran gebunden?
Grundsätzlich gelten diese minimalen Regeln für alle, auch für jene, die sie nicht unterzeichnet haben. Wenn ich im Feld unterwegs bin stelle ich fest, dass die meisten Kommandanten bewaffneter nichtstaatlicher Gruppierungen die Genfer Konventionen kennen, ja manche tendenziell sogar bereit sind, sie zu respektieren. Aber sie wollen darüber verhandeln, wie das geschehen soll.
Und wenn sie sich widersetzen?
Dann stossen wir an unsere Grenzen. Das ist klar. Es gibt Akteure, die einfach nicht bereit sind, diese Normen zu akzeptieren. Dann muss ich immer wieder sagen: Wir müssen uns selber begrenzen. Wir sind ja keine Polizei zur Durchsetzung der Genfer Konventionen. In solchen Fällen wäre die internationale Staatengemeinschaft gefordert, Massnahmen gegen jene zu beschliessen, welche humanitäres Kriegsvölkerrecht verletzen.
An ihre Grenzen stossen Sie zunehmend auch finanziell. Es sind immer mehr Mittel nötig. Lassen sich diese überhaupt noch beschaffen? Zumal es nach wie vor dieselben westlichen Länder sind, welche den überwiegenden Teil zum IKRK-Budget beitragen, das inzwischen zwei Milliarden Franken erreicht hat…
Wir müssen versuchen, den Kreis der Geldgeber auszuweiten. Kurzfristig ist es uns in den letzten Jahren immer wieder gelungen, Ressourcen zu mobilisieren, um das zu machen, was wir als unbedingt notwendig erachten. Langfristig aber haben wir strukturell ein grosses Problem. Zumal es keine plausible Hypothese gibt, die davon ausgeht, dass Konflikte künftig abnehmen und weniger humanitäre Notlagen entstehen.
Die Genfer Rotkreuzkonferenz will in zwei konkreten Bereichen mit jeweils einer Resolution Pflöcke einschlagen. Zum einen geht es darum, in Zukunft neben dem Auftrag, das physische Überleben von Menschen zu sichern, sich auch deren mentaler Gesundheit anzunehmen. Was ist da genau geplant?
Mit der Vielzahl von Konflikten und entsprechenden Spannungen in diesen Gesellschaften, merken wir, dass die mentale Gesundheit ebenso wichtig ist wie die physische. Bloss haben wir das bisher weitgehend ausgeblendet. Wir haben gar nicht das nötige Personal. Ich stelle bei Besuchen in Konfliktgebieten oft fest, dass es selbst in grossen Spitälern und Lazaretten in Afghanistan, im Jemen oder in Syrien kaum psychologisch geschultes Personal gibt. Also müssen wir selber solche Fachleute ausbilden und aufbauen.
Wir alle kennen die Kosten von vernachlässigter Gesundheit im physischen Bereich; doch die Kosten für die Zukunft sind sogar noch dramatisch höher, wenn wir im psychischen Bereich nichts tun. Ganz speziell da, wo es darum geht, den Teufelskreis der Gewalt, die neue Gewalt erzeugt, zu durchbrechen. Und zwar indem wir Menschen psychisch unterstützen, daraus auszubrechen.
Zum andern soll in Genf beschlossen werden, dass Personendaten, die humanitäre Organisationen gesammelt haben, beispielsweise um Familienzusammenführungen zu ermöglichen, nicht in andere Hände geraten. Zum Beispiel in jene von Staaten, die sie für Grenzkontrollen oder Ausweisungen nutzen könnten…
Wir wollen natürlich nicht, dass unsere Daten für andere Anliegen als für humanitäre zur Verfügung stehen. Sonst verlieren wir das Vertrauen jener, die diese Daten zur Verfügung stellen. Wir brauchen politische, juristische und technische Lösungen um sicherzustellen, dass unsere Personendaten bei uns bleiben.
Gibt es einen politischen Konsens dafür? Man hört, dass sich mächtige Länder wie die USA, China oder Russland gegen diese Resolution stemmen…
Es gibt diesen Konsens momentan noch nicht. Also müssen wir ihn herstellen. Und zwar durch Verhandlungen. Aber ich stelle zumindest fest, dass diesem Thema nun Aufmerksamkeit geschenkt wird und innerhalb der Rotkreuzgemeinschaft Einigkeit herrscht, es dringlich anzugehen.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.