Am Tag dienten sie der Familie der IS-Kämpfer, in der Nacht gehörten sie den Männern: Das Martyrium der geraubten Jesidinnen muss unermesslich gewesen sein. Nach der Eroberung von Sinjar im Nordirak im August 2014 versklavte der Islamische Staat (IS) mehr als 5000 jesidische Frauen. Jetzt ist das sogenannte Kalifat weitgehend zerschlagen. Ein Grossteil der Jesidinnen ist gerettet. Geblieben ist aber ein kollektives Trauma.
Der Raub
Über die uralte Religion der Jesiden mit ihren Mythen und mystischen Bräuchen war der ganze Hass des IS hereingebrochen. Die Dschihadisten wollten ihnen den «Unglauben» austreiben – und ihnen mit Feuer und Schwert ihre brachiale Interpretation des Islams aufzwingen: totale Unterwerfung oder Tod.
Systematisch trennten die IS-Schergen die Frauen von den Männern. Wie auf einem Basar konnten sich verdiente Kämpfer ihre Sklavinnen aussuchen, wie Ghouri Fars (40) in der «Rundschau» erzählt: «Die alten Frauen wollten sie nicht. Aber die jungen Frauen wurden mitgenommen.»
Die Rettung
Für die UNO ist das versuchter Völkermord. Vor einem Jahr ernannte sie die ehemalige Sex-Sklavin Nadia Murad Taha zur Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel. Sie und Ghouri Fars konnte dem IS entkommen. Ihre Familie mussten sie für 24'000 Dollar freikaufen.
Ihre Rettung verdankt sie einem Netzwerk aus Geschäftsleuten und Militärs. Im Zentrum steht dabei die religiös-politische Führung der Jesiden. In enger Zusammenarbeit mit den Kurden im Nordirak gelang es, Informationen über den Verbleib der Frauen zu sammeln. Schmuggler holten sie unter Lebensgefahr aus dem Gebiet des IS heraus.
Die Rückkehr
Dank seiner Kontakte in Syrien konnte Abdullah Shrem 322 Frauen retten. Oft gelang ihm die Rettung nicht auf Anhieb: «Bei einer Frau mit zwei Kindern wurde zuerst der Schmuggler verhaftet und geköpft. Dann fiel ein Kind in den Euphrat.» Nur mit Glück gelang es schliesslich, die Mutter und beide ihrer Kinder zu retten. Die Körper der Frauen waren in Sicherheit, nicht aber ihre Seelen.
Doch für die meisten Jesidinnen begann der wirkliche Weg zurück erst nach der Rettung mit der Rückkehr in eine patriarchale Gesellschaft mit einem strengen Ehrenkodex. Eine Gruppe Intellektueller um Khider Domle bewegten Baba Sheikh, den geistigen Führer der Jesiden, zu einem klaren Statement: «Die überlebenden Frauen sind willkommen und verdienen die Unterstützung der Gemeinschaft.»
Die Reinigung
Bereits Ende August konnten zwei Mädchen aus dem IS-Gebiet gerettet werden. Baba Sheikh begrüsste sie persönlich mit den Worten: «Ihr seid rein, reiner als ich, reiner als alle Jesiden!» Mit einer religiösen Feier reinigt er seither die geschändeten Frauen von der Schande.
Laut dem jesidischen Intellektuellen Khider Domle hat der Schock über den Raub der Frauen die Gesellschaft verändert: «Die Jesiden haben der Welt gezeigt, dass sie als einzige Gesellschaft im Nahen Osten ihre Frauen nach Vergewaltigung und Versklavung wieder in die Gemeinschaft aufgenommen haben.»