In mehreren US-Bundesstaaten werden dieser Tage die Auflagen für die Bevölkerung Schritt für Schritt wieder gelockert. So dürfen Coiffeursalons oder Bowlingbahnen in Georgia wieder öffnen, obschon die Fallzahlen dort noch am Steigen sind. Andere Bundesstaaten wie Texas oder South Carolina planen ebenfalls Lockerungen für die nächsten Tage.
Doch Experten warnen: Die Vergangenheit zeige, dass ein zu frühes Lockern der Auflagen zu einer zweiten Welle führen könne. Als prominentes Beispiel führen sie San Francisco an. Die Stadt an der Westküste kam bei der ersten Welle der Spanischen Grippe vor gut hundert Jahren noch relativ glimpflich davon. Sie hatte Schulen und Theater frühzeitig geschlossen und Tanzveranstaltungen verboten.
Dann kam die zweite Welle
Allerdings feierte die Stadt das Ende des Ersten Weltkriegs auch mit einer grossen Parade, trotz der grassierenden Spanischen Grippe. Und als die erste Welle abflachte, wurden die Auflagen ganz aufgehoben. Am 22. November 1918 schrieb die Lokalzeitung San Francisco Chronicle: «Nach vier Wochen Maulkorb-Trübsal legte San Francisco gestern die Masken beiseite und wagte einen tiefen Atemzug».
«Es gab Partys in der Stadt», sagt der renommierte Epidemiologe Stephen Morse von der New Yorker Columbia University: «Die Menschen warfen die Masken voller Freude in die Luft oder verbrannten sie. Doch damit ermöglichten sie erst recht eine zweite Welle. Und diese war noch verheerender, mit noch mehr Opfern als die erste».
Schon anfangs Januar waren die Spitäler wieder voll. Pro Tag starben 25 Menschen an der Krankheit. Die Masken-Pflicht wurde wieder eingeführt. «Wir sind besorgt, dass sich ähnliches wie in San Francisco heute wiederholen könnte», sagt Morse. «Die Leute waren damals zu optimistisch. Wir wissen auch heute schlicht nicht, wann der richtige Zeitpunkt ist, um zu einem gewissen Grad an Normalität zurückzukehren».
Lehren für heute
Zwar gab es bei der Spanischen Grippe auch in anderen Städten eine zweite Welle, sie fiel jedoch je nach Ort völlig unterschiedlich aus. New York traf es damals in der ersten Welle hart, die zweite war weniger schlimm. Das könne auch am Grad der Immunisierung liegen, sagt Morse. Städte wie St. Louis und Los Angeles, welche die Auflagen früh lockerten, kämpften aber mit einer verheerenden zweiten Welle.
Taugen Erfahrungen aus einer Epidemie vor über hundert Jahren als Warnung für heute? Vergleiche seien durchaus möglich, sagt Epidemiologe Morse: «Wir wissen heute zwar wesentlich mehr darüber, wie sich das Virus verbreitet, doch nach wie vor ist vieles unbekannt.» Die Spanische Grippe könne gute Hinweise darauf geben, wie sich ein Virus, das die Atemwege betrifft, verbreitet.
Vorsicht in New York
Laut Morse gilt es, die Auflagen vorsichtig, Schritt für Schritt, aufzuheben und genau empirisch zu beobachten, wie sich dies auswirke. «Georgia, Florida oder South Carolina könnten Rückschlüsse darauf bringen, ob es zu früh ist. Ich bin besorgt, aber wir wissen es einfach nicht.»
Der Gouverneur des am stärksten betroffenen US-Bundesstaates New York, Andrew Cuomo, will noch kein Risiko eingehen. Bei einer Medienkonferenz letzte Woche nahm er explizit Bezug auf die Spanische Grippe. Diese zeige, dass es Wellen geben könne: «Ich will nicht, dass es hinterher heisst: ‹Es gab politischen Druck, die Führung wurde nervös und agierte unvorsichtig›. So wollen wir uns nicht verhalten.»