Die Sozialdemokraten machen den nächsten Schritt Richtung grosse Koalition. Oder vielmehr: Sie wagen ihn. Denn die Partei ist ausgesprochen unsicher, wie mit der krachenden Niederlage vom September umzugehen ist.
Das Resultat von 56,4 Prozent Ja-Stimmen am Sonderparteitag hätte noch viel knapper ausfallen können – angesichts des tiefen Spalts, der sich durch die Partei zieht.
Halsbrecherische Kehrtwende von Schulz
Die Delegierten haben um diesen Entscheid hart gerungen und viele sind überzeugt: Die SPD kann es fast nur falsch machen. Zusätzlich erschwert wurde der Prozess durch die halsbrecherische Kehrtwende von Martin Schulz. Von der wiederholten dezidierten Absage an die grosse Koalition hin zum leidenschaftlichen Plädoyer dafür. Darunter hat seine Glaubwürdigkeit gelitten. Ein Nein wäre wohl sein politisches Ende gewesen.
Entschieden hat der Sonderparteitag über das kleinere Übel. Ratgeberin war auch dabei die Angst davor, es könnte noch schlimmer kommen. Regierung oder Neuwahl war letztlich die Frage. Die jüngsten Umfragen sahen die SPD bei bloss 18 Prozent. Neuwahlen wären also keine Garantie für ein besseres Ergebnis gewesen.
Die Hoffnung auf Nachbesserung
Dem Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD, Basis für die nun folgenden Koalitionsverhandlungen, fehle die sozialdemokratische Trophäe, wie vor vier Jahren der Mindestlohn. Das musste sich die SPD-Spitze oft anhören. Grosse Landesverbände verlangen deshalb «substantielle Nachbesserungen».
Tatsächlich hoffen viele derjenigen, die jetzt mit Bauchschmerzen zugestimmt haben, auf zusätzliche Zugeständnisse der Union. Die Erwartungen sind gross. Doch wie gross der Spielraum ist, ist offen.
Kanzlerin Angela Merkel will diese stabile Regierung unbedingt, aber sie steht auch unter grossem Druck von rechts: Die Unionspartnerin CSU wird im Jahr der bayerischen Landtagswahl nicht leicht für weitere Konzessionen zu gewinnen sein.
Hohe Hürde SPD-Basis
Unter diesen Voraussetzungen geht es jetzt in die Koalitionsverhandlungen. Sicher ist die Neuauflage von Schwarz-Rot mit dem heutigen Votum keineswegs. Denn wie bereits vor vier Jahren sollen auch dieses Mal die über 400'000 Mitglieder den Koalitionsvertrag absegnen. Diese freiwillige Rückversicherung bei der Basis mag als Druckmittel in den Verhandlungen dienen, sie könnte sich aber als Bumerang erweisen.
Im ganzen Land wird die Sorge laut, dass nach einer erneuten grossen Koalition gar nichts mehr übrig bliebe von der einst stolzen Volkspartei. Dringend nötige Erneuerung und Fortsetzung der Regierungsbeteiligung? Es wird ein ganzes Stück Arbeit, die Mitglieder davon zu überzeugen, dass so ein Neustart bei gleichzeitigem «Weiter so» gelingen soll.