In Ungarn ist am Montag ein umstrittenes Gesetz in Kraft getreten, das im Freien übernachtende Obdachlose kriminalisiert. Dem Gesetz zufolge dürfen Wohnungslose nicht auf Strassen oder anderen öffentlichen Plätzen leben und übernachten. Die Polizei ist jetzt befugt, im Freien schlafende Obdachlose von der Strasse zu vertreiben sowie Hütten und Verschläge zu räumen.
Drohen Obdachlose nun auf offener Strasse drangsaliert zu werden? In der Vergangenheit sei die Polizei relativ zurückhaltend gegenüber Obdachlosen gewesen, erklärt Meret Baumann von der NZZ. Nun sei es aber denkbar, dass das Vorgehen verschärft werde.
Verbreitetes Armutsproblem
Schätzungen zufolge sind in Ungarn mindestens 20'000 Menschen obdachlos. Das klingt nach viel. Baumann bestätigt: «In Ungarn gibt es verbreitete Armut.» Während der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sei das Land nahe am Bankrott gewesen und musste extrem sparen – auch bei den Sozialleistungen. Dies schlug gerade auf die Menschen durch, die ohnehin mit wenig auskommen mussten.
Dazu kommt: Nach der Jahrtausendwende sei es in der Bevölkerung populär geworden, Fremdwährungskredite aufzunehmen: «Als dann die Landeswährung Forint abgestürzt ist, konnten viele Menschen diese Kredite nicht mehr bedienen und haben ihre Wohnungen und Häuser verloren.»
Die Armut soll für die Bevölkerung nicht mehr im Alltag sichtbar sein.
Doch was bezweckt die ungarische Regierung überhaupt mit dem Gesetz? Tatsächlich geht es der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban darum, die Sichtbarkeit der Armut zu verhindern: «Sie soll für die Bevölkerung nicht mehr im Alltag spürbar sein.»
Lange habe die Regierung das nicht zu leugnende Problem der Vorgängerregierung in die Schuhe geschoben. Mittlerweile regiert Orban ununterbrochen seit acht Jahren; entsprechend ist die wirtschaftliche Entwicklung des Landes unweigerlich mit seiner Politik verbunden: «Er ist verantwortlich für die Situation in Ungarn, und Armut im Alltag der Menschen stört dieses Bild», sagt die NZZ-Korrespondentin.
Regierung sieht Vorteile für Obdachlose
Die Regierung versichert, das Gesetz sei im Interesse der Wohnungslosen. Demnach gebe es genügend Betten für sie, nach Schätzungen sollen es 11'000 sein. Der Haken dabei: Viele der Obdachlosen sind psychisch krank oder drogenabhängig und möchten gar nicht in Heime. «Viele von ihnen wollen sich nicht in so einem Umfeld integrieren», sagt Baumann.
Sollte das Gesetz auf der Strasse durchgesetzt werden, geht Baumann davon aus, dass viele der Menschen aus den Einkaufsmeilen und U-Bahnen wegziehen und Zuflucht am Stadtrand suchen werden.
Kritik von Menschenrechtsorganisationen
Menschenrechtsgruppen und internationale Organisationen kritisieren das Vorgehen der Regierung Orban scharf. Die UNO-Wohnungsexpertin Leilani Farha bezeichnete das Gesetz als «grausam und unvereinbar mit den internationalen Menschenrechten».
Schliesslich hegen Menschenrechtsaktivisten den Verdacht, das Gesetz ziele darauf ab, die Minderheit Roma im Land zu kriminalisieren. Baumann glaubt jedoch nicht, dass dies die eigentliche Motivation hinter der Gesetzesverschärfung ist.
Zwar sei die Armut unter den Roma deutlich grösser als in der Mehrheitsbevölkerung. Der Regierung Orban müsse man aber anrechnen, dass sie einiges zur Förderung und Unterstützung der Roma unternommen habe.
«Es gibt meines Erachtens keine gezielte Politik der Regierung gegen die Roma», sagt Baumann. Allerdings sei nicht von der Hand zu weisen, dass die Minderheit gerade in regierungsnahen Medien häufig diffamiert werde: «Und das in einem völlig inakzeptablen Ton.»