Juristisch ist das Urteil keine Überraschung: Lebenslänglich für Mord und eine besondere Schwere der Schuld. Der Täter hatte zwar mehrmals seine Aussagen geändert, war aber am Ende zu seiner Tat und rechtsextremen Gesinnung gestanden. Vor allem gesellschaftlich ist der «Fall Lübcke» aber höchst bedeutsam.
Blutiger Dreiklang
Man kann den Anschlag auf den Kassler CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübcke vom 1. Juni 2019 nur als Teil eines blutigen Dreiklangs verstehen. Lübcke hatte sich in der Flüchtlingskrise engagiert. Am 9. Oktober 2019 folgte ein Anschlag auf die Synagoge in Halle und am 19. Februar 2020 ein gezielter Anschlag auf Menschen mit einem Migrationshintergrund in Hanau, dem neun Personen zum Opfer fielen.
Im Fall Lübcke ging es gegen einen Vertreter des Staates, in Halle gegen die Juden und in Hanau gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Jedes Mal war Rechtsextremismus das Motiv. Die drei Fälle bewirkten ein Umdenken in der Politik, beim Staat und seinen Institutionen. Und die Vermutung sei gewagt, dass der Fall Lübcke den grössten Eindruck hinterliess, denn das Attentat auf Walter Lübcke war als ob der Täter auch die Pistole auf die Brust von Horst Seehofer (CSU) gerichtet habe, der als Innenminister für die innere Sicherheit des Staates zuständig ist.
Erinnerung an 1922
Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Schlussplädoyer die «historische Dimension» des Anschlags auf Walter Lübcke unterstrichen. Es sei der erste rechtsradikal motivierte Mord an einem Politiker in einem demokratisch verfassten Deutschland – also die Zeit des Nationalsozialismus ausgenommen – seit 1922. Damals war Aussenminister Walter Rathenau, ein Jude, von Rechtsextremen erschossen worden. In einer Sondersitzung des Reichstags rief der damalige Reichskanzler Wirth: «Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!» In der Folge erliess der Reichstag das «Republikschutzgesetz» zum Schutz vor Rechtsextremen.
Nun hat der Mord an Walter Lübcke nicht dieselbe politische Dimension. Aber er war der Weckruf für Innenminister Seehofer, der zum selben Schluss kam: Die grösste Gefahr für Deutschland gehe gegenwärtig vom Rechtsextremismus aus, sagt er immer wieder. Und seither hat der Staat auch deutlich reagiert.
Unterschiede zur RAF
Man dürfe nicht auf dem linken Auge blind sein, werden nun manche einwenden. Das ist richtig. Aber so wie in den 1970er Jahren die grösste Gefahr von der linksextremen RAF kam, so kommt sie 2021 von rechts. Die RAF brachte die Bundesrepublik damals an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, obwohl sie nicht in der Bevölkerung verankert war. Heinrich Böll prägte damals den berühmten Begriff von «sechs gegen sechzig Millionen», so viele Einwohner hatte die Bundesrepublik damals.
Heute ist die Lage möglicherweise etwas anders. «Wütende und besorgte Bürger/innen» haben zwar jedes Recht zu protestieren. Aber seit den Ausschreitungen und Demonstrationen in Chemnitz 2018 kann man immer wieder beobachten, dass sich diese Bürger zu wenig klar von Rechtsextremen abgrenzen.