Ich kann mich gut erinnern, als Papst Johannes Paul II. im Frühling 2005 im Sterben lag. Die Fernsehmoderatoren trugen schwarze Krawatten, die Reporter vor dem Krankenhaus schauten mit traurigem Blick in die Kameras, wenn sie über den Gesundheitszustand von Johannes Paul II. berichteten.
Der Papst lag im Sterben, das war klar, doch er starb nicht auf Befehl. Es dauerte. Und so mussten die Journalisten wochenlang ihre schwarzen Krawatten tragen und mit Hundeblick in die Kameras schauen.
So ähnlich verhält es sich mit dem politischen Ende von Bundeskanzlerin Merkel. Seit der Bundestagswahl vor gut einem Jahr ist glasklar, dass sich die politische Ära Merkel dem Ende zuneigt. Das Ende kann nach der Wahl in Hessen am kommenden Wochenende kommen oder beim CDU-Parteitag im Dezember, oder es kann noch monatelang dauern. Vielleicht sogar Jahre: Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Oder um ein Bonmot von Winston Churchill zu bemühen: Das ist nicht das Ende, nicht einmal der Anfang vom Ende, sondern vielleicht das Ende vom Anfang.
Sieger, die verlieren
Churchills politische Niederlage 1945 wiederum kam völlig überraschend. Nur gut zwei Monate nach dem V-Day, dem Victory Day, dem siegreichen Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 wurde er abgewählt. Er war die Ikone der Europäer im Kampf gegen Hitler in den dunkelsten Stunden gewesen. Doch die Menschen hatten genug von Blut, Schweiss und Tränen, auf die sie Churchill 1940 eingeschworen hatte. Sie wollten eine Dividende für den Sieg.
Auch hier gibt es gewisse Parallelen zur Kanzlerin: Angela Merkel kann auf die besten Wirtschaftsdaten seit rund 30 Jahren zurückblicken. Deutschland hat fast Vollbeschäftigung. Merkel hat die Wirtschafts- und Finanzkrise vor zehn Jahren politisch gut bewältigt. Unvergessen ihr Auftritt mit dem damaligen Finanzminister Steinbrück fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, als sie den Deutschen versprach: Eure Sparbücher sind sicher.
Flüchtlingskrise als Zäsur
Zum Vergleich: Ganz anders war die ewige Ära Kohl 1998 zu Ende gegangen. Es waren Zeiten, einer Arbeitslosigkeit von über 11 Prozent, Zeiten eines verzweifelten und vergeblichen Kampfs gegen die Wirtschaftskrise. Was immer die Bundesregierung damals anpackte, unzählige «Bündnisse für Arbeit», zahllose Programme. Es nützte nichts und nochmals nichts. Heute, genauer nach dem neusten sog. Vermögensbarometer vom vergangenen Mittwoch, beurteilen 63 Prozent der Deutschen ihre finanzielle Lage als «gut» oder «sehr gut». Das ist Rekord. Merkels Regierungszeit neigt in einem milden Abendlicht wirtschaftlichen Erfolgs dem Ende zu.
Ja, die Flüchtlingskrise von 2015 war eine Zäsur. Die Story ist bekannt. Es kam etwas ins Rutschen. Das Vertrauen der Bevölkerung geriet ins Rutschen. Diese Vertrauenskrise der Bevölkerung, die sich zuerst in den USA manifestiert hatte, erreichte Deutschland. Heute ist das Verhältnis zwischen Angela Merkel und der Bevölkerung wie in einer zerrütteten Ehe. Die Wähler haben einfach genug. Zwar ohne wirkliche handfeste, wirtschaftliche Gründe. Aber es ist so. Dazu kommt: Das «System Merkel» hat sich überlebt.
Heute ist das Verhältnis zwischen Angela Merkel und der Bevölkerung wie in einer zerrütteten Ehe.
Im Zenit ihrer Macht, bei der Bundestagswahl 2013 hatte die Kanzlerin den Slogan plakatiert: «Sie kennen mich». Ihre Botschaft lautete: «Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, ich erledige die Politik für Euch. Ihr könnt Euch Eurem Privatleben, dem Beruf, dem Fussball am Samstag und dem Grillen am Sonntag widmen.» Die Deutschen schätzten das damals. Heute sind die Zeiten national und international so turbulent, sind viele durch die Flüchtlingskrise so verunsichert und so stark frustriert durch den «Schwarzbrot-Alltag» bei der praktischen Integration der Flüchtlinge, dass sie keine politischen Beruhigungstropfen, sondern politisch klarer Ansagen und Aussagen wollen.
Schäubles Lawinenbulletins
Der schlaue Wolfgang Schäuble, den Angela Merkel nach dem Sturz von Helmut Kohl ausgebootet hatte, sagte während des Höhepunkts der Flüchtlingskrise beiläufig: «Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein unvorsichtiger Skifahrer an einen Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt». Er meinte damit Merkel. Die Ereignisse von 2015 haben eine Lawine von Unmut ausgelöst.
Der Untergrund, in der Politik das Vertrauen, hält nicht mehr. Die politische Grosswetterlage in Deutschland ist im Moment wie an einem Hang mit Schneebrettgefahr. Also gilt es, dieser Tage die Bulletins der politischen Schnee- Lawinenforschung in Berlin, Bayern und Hessen genau zu studieren.