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Wächst die Anhängerschaft? «Man darf Verschwörungstheoretiker nicht als irre abtun»

Nichts ist, wie es scheint. Zufälle gibt es nicht. Alles hängt mit allem zusammen. Das seien die wichtigsten Merkmale von Verschwörungstheorien, erklärt Michael Butter, einer der führenden Experten auf diesem Gebiet in Deutschland.

Michael Butter

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Michael Butter ist Professor für Amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er ist einer der führenden Experten in Deutschland für Verschwörungstheorien. Zuletzt erschien von ihm 2018 das Buch «Nichts ist, wie es scheint».

SRF News: Kundgebungen gegen die Corona-Massnahmen haben am letzten Wochenende in Deutschland Tausende und in der Schweiz Hunderte angelockt. Sind vermehrt Verschwörungstheorien im Umlauf?

Michael Butter: Es ist noch schwierig, abschliessend zu antworten. Vermutlich fallen aber vor dem Hintergrund der Coronakrise die seit Jahren populären Verschwörungstheorien einfach noch mehr auf als sonst.

Zum Teil werden die Proteste als «Hygiene-Demos» bezeichnet. Wie ist das einzuordnen?

In Deutschland ist das zurzeit ganz typisch für populistische Bewegungen. Diese sind sehr gut darin, Verschwörungstheoretiker und Nicht-Verschwörungstheoretiker an Protesten miteinander zu verbinden. In Stuttgart waren am Wochenende überzeugte Verschwörungstheoretiker auf der Strasse, die seit Jahren an alle Verschwörungstheorien glauben. Corona ist da nur das neueste Kapitel ihrer persönlichen Favoritenerzählung.

Populistische Bewegungen sind sehr gut darin, Verschwörungstheoretiker und Nicht-Verschwörungstheoretiker an Protesten zu verbinden.
Autor: Michael Butter

Dazu kamen Leute aus der Esoterik-Szene und Impfgegner, die eine Nähe zu Verschwörungstheorien haben, aber nicht immer ganz so extrem darauf hereinfallen. Ebenso gab es «normale» Menschen, die sich in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Identität bedroht sehen und an den Protesten gegen den Lockdown gesehen und gehört werden wollen.

Verschwörungstheorien.
Legende: Die aktuell meistverbreitete Verschwörungstheorie sieht Microsoft-Gründer Bill Gates mit seiner milliardenschweren Gesundheitsstiftung hinter dem Coronavirus. Er kontrolliere so die Weltgesundheitsorganisation WHO und Regierungen, wolle den Menschen mit Zwangsimpfungen Microchips implantieren und Frauen zwangssterilisieren, heisst es. imago images

Die zurzeit populärste Verschwörungstheorie sieht Bill Gates als Schuldigen für Corona. Wie kann eine so abstruse Theorie Anklang finden?

Es ist offensichtlich für viele Menschen attraktiv, an solche Konstrukte zu glauben. Verschwörungstheorien machen die Welt erklärbar, indem sie Zufall und Chaos ausschliessen. Indem sie mit Fingern auf Menschen zeigen und Bösewichte identifizieren.

Verschwörungstheorien machen die Welt erklärbar, indem sie Zufall und Chaos ausschliessen.
Autor: Michael Butter

Im konkreten Fall einen alten weissen Mann, Bill Gates, an der Spitze der Verschwörung. Das ist ein bekanntes Muster. In ähnlicher Funktion diente bereits der amerikanische Investor George Soros. Für viele Menschen ist es offenbar leichter akzeptierbar, wenn irgendwelche dunklen Mächte im Hintergrund die Strippen ziehen, als wenn niemand identifizierbar ist. Man versteht dann vermeintlich, was vor sich geht. Gerade auch in den unsicheren Zeiten der Pandemie.

Man kann das als Spinnerei abtun, doch die Videos wurden zum Teil millionenfach angeklickt. Gibt es mehr Anhänger als angenommen?

Man darf Verschwörungstheoretiker nicht als «irre» abtun. Dafür sind Verschwörungstheorien zu weitverbreitet. Eine Reihe von Studien zeigt, dass in Mitteleuropa vermutlich ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung empfänglich für unterschiedliche Verschwörungstheorien ist und an diese glaubt. In den USA sind die Zahlen sogar noch etwas höher. Da kann man nicht mit Paranoia und anderen Neurosen argumentieren. Denn diese Begriffe verlieren ihren Sinn, wenn es um so grosse Gruppen geht.

Man darf Verschwörungstheoretiker nicht als «irre» abtun. Dazu sind Verschwörungstheorien zu weit verbreitet.
Autor: Michael Butter

Man darf aber auch nicht anhand von Klickzahlen oder Teilnehmerzahlen an Demonstrationen darauf schliessen, dass es eine ungeheure Masse ist, die an Verschwörungstheorien glaubt. Die Videos werden momentan extrem häufig geteilt und landen bei vielen in der Inbox. Es wird draufgeklickt und dann vielleicht ganz schnell wieder weg. Das ist also kein Minderheitenphänomen im Sinne, dass es zu vernachlässigen wäre. Es ist vielmehr eine signifikante Minderheit, aber noch nicht die Mehrheit, die an solche Theorien glaubt.

Das Gespräch führte Barbara Peter.

Tagesgespräch, 13.05.2020, 13:00 Uhr ; 

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