Die libanesische Politik verharrt seit Beginn des Kriegs im grossen Nachbarland Syrien die meiste Zeit in Schockstarre. Das Parlament in Beirut verlängerte mehrfach sein Mandat, mit Verweis auf den Krieg und die inneren Spannungen und Zerwürfnisse im Libanon. Statthalterregierungen und provisorische Arrangements folgten aufeinander. Die Devise: Nur keinen Wahlkampf riskieren, der neue Unruhen provozieren könnte.
Nun aber fasst der Mittelmeerstaat mit seinen vielen verschiedenen religiösen Gruppen wieder etwas Mut. Am Sonntag sind 3,6 Millionen stimmberechtigte Libanesen zu den Urnen gerufen, zum ersten Mal seit neun Jahren.
Völlig neues Wahlsystem
Der Wahlkampf läuft intensiv, in den Fernsehstationen der libanesischen Clans und Parteien, auch Strassen und Plätze sind voller Plakate und Parteiparolen, Spitzenpolitiker unternehmen mit grossem Tross Wahlkampftouren durch ihre jeweiligen Stammlande.
Das Parlament wurde bisher nach einem Mehrheitswahlrecht bestellt. Neu wagt Libanon den Übergang zu einem komplizierten Proporz. Das sorgt bei manchen für Verwirrung, andere erhoffen sich gerade davon den Aufbruch.
Die Parteien treten auf Listen an, die Wähler können einzelne Namen darauf allerdings bevorzugen. Im Wahlkampf gehen die Parteien auch rein taktische Bündnisse ein, manche spannen in unterschiedlichen Wahlkreisen sogar mit unterschiedlichen Konkurrenten zusammen.
Mit welchen Folgen? Die grossen Parteien werden da und dort ein paar Stimmen verlieren, prognostiziert der Politwissenschaftler Imad Salamey in Beirut. Er rechnet im neuen Parlament mit etlichen neuen Gesichtern, der einen oder anderen unabhängigeren Stimme auch. Allerdings würden die bisherigen Machtarrangements dadurch nicht in Frage gestellt.
Defizit, Korruption und marode Infrastruktur
Die grossen regionalstrategischen Verwerfungen zwischen dem sunnitisch geprägten Saudi-Arabien und dem schiitisch geprägten Iran verlaufen mitten durch das kleine Mittelmeerland. Die libanesischen Eliten verstecken sich aber auch gern hinter diesen Verwerfungen, um vom eigenen Versagen abzulenken.
Das Land lebt wirtschaftlich weit über seine Verhältnisse, schreibt tiefrote Zahlen, hat eine desolate Infrastruktur, die Korruption ist verbreitet. Politiker bedienen mehr sich selbst und ihre Klientel, als sich um den Aufbau eines leistungsfähigen Gemeinwesens zu kümmern.
Dennoch: Dass diese Eliten sich jetzt an der Wahlurne der eigenen Bevölkerung stellen, sei bemerkenswert und für sich schon ein Grund zur Freude, meint Imad Salamey in Beirut. Umso mehr mitten im Nahen Osten, in dem autokratische Regime die Norm sind.
Die politischen Konflikte verlaufen vielfach, aber nicht ausschliesslich entlang konfessioneller Gegensätze.
Saad al Hariri
Die wichtigste Figur im sunnitischen Lager ist Premierminister Saad al Hariri, nach der Ermordung seines Vaters Rafik al Hariri (2005) trat er in dessen grosse Fussstapfen. Der Sohn erbte vom charismatischen Vater die Führerschaft über die sunnitische «Zukunftsbewegung» , ist verglichen mit diesem aber eine schwache Figur.
Auch das Verhältnis zum wichtigsten Sponsor der Hariris, dem saudischen Königshaus, hat sich eingetrübt. Im letzten November zitierte der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman den libanesischen Premierminister nach Riad und zwang Hariri dort, seinen Rücktritt als Regierungschef Libanons zu erklären, offenbar weil er Hariri als Kompromissler betrachtet, welcher der schiitischen Hisbollah-Bewegung zu wenig die Stirn biete.
Hariri macht Wahlkampf, als sei diese bizarre Episode nie gewesen. Er verspricht wirtschaftliche Entwicklung in den ärmsten Landesteilen, nicht zum ersten Mal. Hariri versucht auch als «König der Selfies» seine Volksnähe unter Beweis zu stellen. Zwar kritisiert er die Hisbollah scharf, das aber sei nur Wahlkampfgetöse, sagen Politbeobachter. Nach den Wahlen dürften die beiden grossen politischen Gegenspieler ihre Koalitionsregierung weiterführen. Es ist ein politischer Minimalkonsens mit Hariri als «Juniorpartner», in dem die Hisbollah den Ton angibt. Beide Seiten haben ihre Verbündeten im christlichen Lager.
Hisbollah
Die islamistische Hisbollah ist die wichtigste Bewegung im schiitischen Lager Libanons, ihre Stammlande hat sie im Süden, im Grenzgebiet zu Israel. Die «Partei Gottes» unterhält eine schlagkräftige Miliz mit zehntausenden Kämpfern und modernsten Raketen. Hinter ihr steht das islamistische Regime Irans, das sich als Schutzmacht der Schiiten in der Region sieht.
Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah ist kein Mann für Selfies, er hält kraftvolle Reden im Gewand des schiitischen Geistlichen, tritt aber kaum je direkt vor seinen Anhängern auf. Meist werden seine Reden aus Sicherheitsgründen von einem geheimen Ort aus auf Grossleinwände übertragen. Die Hisbollah stellt sich als überkonfessionelle Beschützerin der libanesischen Bevölkerung vor «äusseren Feinden» dar und meint damit vor allem Israel, das mehrfach innerhalb Libanons militärisch gegen die schiitische Miliz vorgegangen ist. Israel greift auch regelmässig Waffenlieferungen für die Hisbollah durch Syrien an.
Die Hisbollah kämpft selber im grossen Nachbarland, verteidigt in Syrien das Regime Assad. Die Rolle als iranische Speerspitze auf den syrischen Schlachtfeldern hat die Position der Hisbollah auch zuhause in Libanon weiter gestärkt. Sie beteiligt sich mit Abgeordneten und Ministern am politischen Prozess, ihr Waffenarsenal hilft ihr dabei, ihren politischen Positionen Nachdruck zu verleihen.
Flüchtlinge als Wahlkampfthema
Libanon hat in grosser Solidarität mehr als eine Million syrische Kriegsflüchtlinge aufgenommen, im Verhältnis weit mehr als jedes andere Land. Es gibt aber auch viele Klagen. «Die Flüchtlinge nehmen uns die Arbeit weg», ist eine davon, sie ist auch im Wahlkampf zu hören.
Die Flüchtlinge belasten auch die Infrastruktur. Ein Teil der Probleme allerdings ist hausgemacht, der Korruption der Clanchefs und Parteiführer geschuldet, der Günstlingswirtschaft.
Regelmässig blitzt die Sehnsucht nach einer Alternative auf. Zuletzt im Sommer vor drei Jahren, als sich der Müll wochenlang in den Strassen türmte und das Versagen der Politiker offensichtlich wurde. Grossdemonstrationen unter dem Label «Ihr stinkt» waren die Folge.
Auch jetzt bei den Parlamentswahlen meldet sich die «Zivilgesellschaft», mit alternativen Wahllisten. Samer Annous, Universitätsdozent in Tripoli, und selber aktiv in der Bürgerrechtsbewegung, begrüsst das sehr. Seine Hoffnung auf Veränderung bleibt dennoch klein. Die Übermacht des konfessionellen Machtkartells sei zu gross. Und die alternativen Parteien Libanons stünden sich oft auch selber im Weg, seien zu wenig geschlossen, um wirklich Gewicht zu haben.