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Wahlen in Tunesien «Viele fragen sich: Wer hat eigentlich das Sagen?»

Die Präsidentschaftswahlen sind noch nicht entschieden, doch schon wählt Tunesien erneut. Politexperte Michaël Béchir Ayari über die schwierige Ausgangslage vor den Parlamentschaftswahlen.

Die Ausgangslage ist unübersichtlich, mit einer Vielzahl von Parteien und Listen – und ohne klare Favoriten wie vor fünf Jahren. Gleichzeitig wünschten sich viele Bürger klarere Verhältnisse und schnellere Entscheidungen. Das stellt Politexperte Michaël Béchir Ayari von der International Crisis Group fest, der in Tunesien lebt.

Michaël Béchir Ayari

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Ayari arbeitet seit 2011 für den Thinktank International Crisis Group als Analyst für Tunesien. Er doktorierte zuvor in Politikwissenschaften und forschte am Institut für Recherchen und Studien über die arabische und muslimische Welt (IREMAM) in Aix-en-Provence, Frankreich. Am IREMAM hat er einen Lehrauftrag.

SRF News: Herr Ayari, wie erleben und bewerten Sie den Wahlkampf in Tunesien?

Michäel Béchir Ayari: Das Positive vorweg: Es ist eine intensive und offene Debatte in Gang gekommen. Und anders als bei den letzten Wahlen 2014 gibt es diesmal keine vorgängigen Absprachen über mögliche Verteilungen von Ämtern. Doch das hat auch eine Schattenseite: Der Wahlkampf wird gehässiger geführt. Und die Bevölkerung ist verunsichert. Nicht zuletzt, weil die Zahl der Listen und Kandidaten viel grösser ist als beim letzten Mal. Viele verlieren den Überblick.

Tunesien hat den Arabischen Frühling ausgelöst. Acht Jahre später sind Frust und Enttäuschung deutlich spürbar. Ist der demokratische Transformationsprozess gefährdet?

Von einer Gefährdung würde ich noch nicht sprechen, eher von einer Desillusionierung. Die Menschen in Tunesien haben gemerkt, dass Demokratie nicht automatisch zu Wirtschaftswachstum und Erfolg führt. Das enttäuscht viele – und sie wenden sich von der Politik ab. Verstärkt wird dies durch den Umstand, dass sich bei den staatlichen Behörden und Reglementierungen aus Sicht der Bürger zu wenig verändert hat. Es reicht nicht, eine neue, liberale Verfassung zu schreiben – und dann ist über Nacht alles besser.

Inzwischen wünschen sich viele Bürger wieder eine starke Führerfigur im Stil des früheren Langzeitherrschers Ben Ali. Wie erklären Sie diese Nostalgie?

Es ist weniger der Wunsch nach der harten Hand, sondern viel mehr nach übersichtlichen Verhältnissen, klaren Zuständigkeiten und schnellen Entscheidungen. Nach dem Sturz von Ben Ali wurde in Tunesien die Macht aufgeteilt. Viele fragen sich: Wer hat eigentlich das Sagen? Wer entscheidet?

Mal angenommen, die Rolle des Präsidenten wird wieder gestärkt und jene des Parlamentes geschwächt: Droht in Tunesien eine Rückkehr zu einem autoritären System?

Die Gefahr besteht. Doch im Moment ist sie nicht akut. Denn eine starke Präsidentschaft mit weitreichenden Kompetenzen, wie zum Beispiel in Frankreich, heisst ja nicht automatisch, dass das politische System autoritär ist. Solange sich nicht wieder ein Clan an der Spitze von Staat und Wirtschaft etabliert.

Nach den Parlamentswahlen steht in einer Woche die zweite Runde der Präsidentschaftswahl an. Zwei Unabhängige treten gegeneinander an. Wie beurteilen Sie den Erstplatzierten, Kais Saied?

Er ist ein grosses Rätsel für viele. Er tritt im Wahlkampf kaum in den Medien auf, hat keine Partei im Rücken und konservative Ansichten. Bekannt geworden ist er durch seine Interviews während der verfassungsgebenden Versammlung vor fünf Jahren. Als Verfassungsrechtler war er ein gefragter Experte. Doch seine Auftritte sind bis heute sehr technisch. Und ich bin etwas überrascht, dass er es im ersten Wahlgang auf den ersten Platz geschafft hat.

Das Gespräch führte Michael Gerber in Tunis.

Sendebezug: SRF 4 News, 10 Uhr

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