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International «Wenn die News vor meiner Nase sind, drehe ich mich um»

Bilder von Flüchtlingslagern zeigen meist das tägliche Elend. Nicht so die Fotos von Muhammed Muheisen – sie zeigen die andere Seite. Im Gespräch erzählt er, warum ein Fotograf unsichtbar sein sollte und in welchen Momenten die Kamera in der Tasche bleibt.

SRF Online: Als Fotograf sind Sie oft in Krisengebieten oder Flüchtlingslagern unterwegs. Wie reagieren Menschen, die sich in einer solch schwierigen Lage befinden, auf Ihre Präsenz?

Muhammed Muheisen

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Der Jordanier (33) ist in Jerusalem aufgewachsen. Er arbeitet in Islamabad (Pakistan) für die Fotoagentur AP. Er fotografiert v.a. im Nahen Osten. Einer seiner Schwerpunkte sind Alltagsszenen aus afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan. 2005 und 2013 hat er für seine Fotografien der Kriege in Irak und Syrien den Pulitzer Preis gewonnen.

Muhammed Muheisen: Das wichtigste ist wohl, sich bewusst zu sein, was diese Leute durchmachen. Sie haben alles verloren: ihren Besitz, ihr Heim, ihre Hoffnungen. Eine fürchterliche Situation also. Da kann man nicht einfach kommen, einige Fotos machen und wieder gehen – auch wenn es Leute gibt, die das tun. Aber das ist nicht meine Art. Ein Fotograf muss sich Zeit nehmen, die Leute kennenlernen, und dann so sehr mit dem Hintergrund verschmelzen, dass er unsichtbar wird.

Unsichtbar?

Die Menschen müssen sich daran gewöhnen, einen zu sehen, bis es ihnen nichts mehr ausmacht, dass man da ist. Es ist nie einfach, in einem Flüchtlingslager zu fotografieren. Aber es hilft, wenn man die Menschen und ihre Privatsphäre respektiert. Wenn die Situation zu angespannt ist, um ein Foto zu machen, gibt es eben kein Foto.

Können Sie sich diese Zeit auch nehmen, wenn Sie in einem Kriegsgebiet wie Syrien unterwegs sind?

Natürlich ist es in einem Land wie Syrien schwieriger, weil man ständig Luftangriffe befürchten muss und sich deshalb nicht zu lange an einem Ort aufhalten kann. In einem solchen Fall gehe ich über mehrere Tage hinweg immer wieder hin, bis die Menschen mich nicht mehr als Fremden wahrnehmen.

Gab es Momente, in denen die Leute Sie gebeten haben, keine Fotos zu machen?

Nein. Wenn ich merke, dass die Situation heikel ist und die Menschen nicht wollen, dass ich fotografiere, lasse ich die Kamera in der Tasche. Ein Fotograf sollte aufmerksam genug sein, das selber zu merken.

Sollte ein Fotograf alles zeigen, was er sieht?

Wenn ich mitten im Geschehen bin, fotografiere ich alles, was um mich herum passiert. Ich glaube nicht, dass es Grenzen gibt. Wenn ich mir darüber Gedanken mache, kann ich meinen Job nicht mehr machen. Es ist nicht an mir, zu entscheiden, was die Leute sehen oder nicht sehen sollen. Meine Verantwortung ist es, ein Ereignis so zu zeigen, wie es passiert ist. Wenn ich ein Ereignis nicht zeige, ist es nie passiert.

Fotograf macht ein Bild von Kindern und sich selber
Legende: Muheisen während der Arbeit. zvg

Was, wenn es Tote gibt oder andere grauenhafte Szenen?

Ich fotografiere alles, denn es ist die Realität. Was publiziert wird und was nicht, dafür sind bei der AP [die Fotoagentur, für die Muheisen arbeitet, Anm. d. Red.] die Bildredaktoren zuständig. Sie sind in diesen Dingen erfahrener.

Hat es Momente gegeben, in denen Sie sich entschieden haben, keine Fotos zu machen?

Ja, davon gab es einige. Zum Beispiel als ich vor einem Jahr in Peschawar an einer Beerdigung war. Dort war in einer Kirche eine Bombe explodiert. Ich war bei einer Familie mit dabei, als sie versuchten, die Leichen in den Särgen zu identifizieren. Die Mutter suchte zwischen den toten Körpern nach ihrem Sohn, eine Schwester suchte ihre Schwester. Es war herzzerreissend. Ich schaffte es nicht, Fotos zu machen.

Ihre Bilder zeigen das Leben in Krisengebieten oft aus einem anderen, ungewohnten Blickwinkel.

Ich versuche, das zu zeigen, was nicht in den Schlagzeilen vorkommt. Wenn sich die News vor meiner Nase abspielen, drehe ich mich um und blicke in die andere Richtung. Das alltägliche Leben hört nicht auf, wenn es einen Konflikt gibt. Das ist es, was ich zeigen will.

Wie sind Sie dazu gekommen, eine Bildserie von syrischen Flüchtlingskindern zu machen?

Ich hatte eine der seltenen Bewilligungen erhalten, um in einem jordanischen Flüchtlingslager während zwei Tagen zu fotografieren. Am ersten Tag ging ich hin, um mir das Ganze einfach mal anzuschauen. Und ich merkte, wie ich automatisch zum Spielplatz ging und mich hinsetzte. Die Kinder dort haben Angst vor Kameras. Doch nach einer Weile kamen einige von ihnen von selber auf mich zu und fragten, ob ich von ihnen Fotos machen könne. Nachdem das Eis erst einmal gebrochen war, kamen sie alle. So ist das entstanden.

Bevor Sie diese Bilder gemacht hatten, hatten Sie in Pakistan eine ähnliche Serie mit afghanischen Flüchtlingskindern gemacht.

Ich lebe in Pakistan, wo viele afghanische Flüchtlinge seit Dutzenden von Jahren leben. Seit ich 2010 in Islamabad angefangen habe zu arbeiten, bin ich oft in diese Flüchtlingslager gegangen. Es ist schwierig, Zugang zur afghanischen Flüchtlingsgesellschaft zu bekommen. Die Menschen sind gebrochen und leben in Slums. In den vier Jahren, in denen ich die Lager besuchte, habe ich gesehen, wie die Flüchtlingskinder aufwachsen. Ich war der Meinung, dass die Menschen darüber Bescheid wissen sollten. Als Fotojournalist ist es meine Verantwortung, über Ereignisse zu berichten, die in Vergessenheit geraten sind.

Der Fotoblog des Time Magazine, Time LightBox, hat über Ihre Bildserie berichtet. Haben Sie darauf Reaktionen erhalten?

Ja, ich war von den vielen Antworten regelrecht überwältigt. Ich habe hunderte Mails erhalten von Leuten die fragten, wie sie helfen könnten. Einige haben Kleider geschickt, die ich danach ins Lager gebracht habe. Die Menschen sind in Tränen ausgebrochen, als sie die Geschenke gesehen haben. Sie sagten, «Die Leute haben uns nicht vergessen». Meine Bilder haben ein Echo ausgelöst, und das ist etwas, das sich jeder Fotojournalist erhofft.

Was ist Ihre Motivation, diesen Beruf auszuüben?

Ich will zeigen, wie das Leben in anderen Teilen der Welt aussieht. Ich möchte, dass die Leute darauf aufmerksam werden, und hoffe, dass sich am Ende etwas ändert. Aber damit das geschieht, muss man den Leuten erst die Augen öffnen.

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