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Porträtaufnahme von Diggelmann.
Legende: Oliver Diggelmann ist Rechtswissenschaftler und Professor für Völker- und Staatsrecht an der Universität Zürich. ZVG

Wie weiter in Katalonien? «Eine Abspaltung ist nur bei einer realen Bedrohung zulässig»

Warum sich die Katalanen nicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen können. Experte Oliver Diggelmann erklärt.

SRF News: Könnten sich die Katalanen gegenüber der Zentralregierung in Madrid auf das im Völkerrecht verankerte Recht auf Selbstbestimmung berufen?

Oliver Diggelmann: Das können sie schon, aber es verschafft ihnen nur gewisse Autonomierechte im bestehenden Staatsverband, und kein eigentliches Sezessionsrecht. Eine Abspaltung wäre nach Völkerrecht nur zulässig, wenn das Volk der Katalanen real bedroht wäre.

Eine Abspaltung ist nur in äussersten Notsituationen zulässig.
Unabhängigkeitsfeier in Osttimor im Jahr 2002: Menschen halten die Flagge.
Legende: Osttimor wurde 1975 von Indonesien annektiert. Der Unabhängigkeitskampf forderte mindestens 200'000 Opfer. Keystone

Welche Dimension müsste eine solche Bedrohung erreichen?

Das lässt sich nicht so einfach sagen, denn es gibt zum Glück nicht so viele Fälle. Klar erreicht ist die Schwelle bei einem Völkermord. Bekanntes Beispiel ist Osttimor. Kosovo ist eher ein Grenzfall. Vereinfachend gesagt: Eine Abspaltung ist nur in äussersten Notsituationen und nur bei schwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen über eine gewisse Dauer zulässig.

Von einer Sezession kann man erst dann sprechen, wenn sich das Gebiet auch wirklich abgespalten hat.

Kann sich ein anderes Land oder eine Staatengemeinschaft aus völkerrechtlicher Sicht in den Katalanen-Konflikt einmischen?

Andere Staaten und die EU dürfen ihre Meinung natürlich äussern. Aber sie können sich nicht als Vermittler aufdrängen. Darauf müsste sich Madrid gewissermassen freiwillig einlassen. Doch das wäre für die Zentralregierung schwierig, weil eine Einlassung auch eine gewisse Augenhöhe bedeutet. Zudem kann aus völkerrechtlicher Sicht nur die Zentralregierung eine Einladung zu einer Vermittlung aussprechen.

Man nutzt die starke Symbolik und tut so, als sei das, was man sich wünscht, bereits da.
Tausende Menschen schauen unter Palmen auf eine Grossleinwand, auf der Puigdemonts Rede übertragen wird.
Legende: Gestern hat Kataloniens Regionalpräsident die Unabhängigkeit verkündet und sie vom Parlament sogleich aussetzen lassen. Keystone

Verstösst die sofort wieder suspendierte Unabhängigkeitserklärung der katalanischen Regierung also gegen das Völkerrecht?

Eine Erklärung an sich ist noch keine Abspaltung. Sie ist nur Ausdruck eines Wunsches zumindest eines Teils der Bevölkerung. Von einer Sezession kann man aber erst dann sprechen, wenn sich das Gebiet auch wirklich abgespalten hat, nach aussen unabhängig ist und im Innern das Gewaltmonopol besitzt. Was aber macht man eigentlich, wenn man sich für unabhängig erklärt? Man nutzt die starke Symbolik – letztlich der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – und tut dann so als sei das, was man sich wünscht, bereits da. Und man hofft, dass das eine Dynamik auslöst.

Homogene Staaten sind nicht das Ziel des Selbstbestimmungsrechts der Völker und können es auch nicht sein.

Verspricht das Recht auf Selbstbestimmung der Völker also mehr, als es halten kann?

Der Begriff bedeutet tatsächlich etwas anderes als das, was man sich auf den ersten Blick darunter vorstellt. Aber homogene Staaten sind nicht das Ziel und können es auch nicht sein. Denn bei einer Abspaltung gibt es im neuen Gebiet ja oft auch wieder neue Minderheiten, und das kann dann so weitergehen. Es muss daher eher das Ziel sein, innerhalb der bestehenden Staaten gute Modi des Zusammenlebens zu finden.

Das Gespräch führte Roman Fillinger.

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