Es gab Zeiten, da waren die Medien voller Berichte über Rückkehrer – junge, gut ausgebildete Türkinnen und Türken der zweiten Generation. Sie verliessen Deutschland, um vom Aufbruch in der Heimat ihrer Väter zu profitieren.
Recep Tayyip Erdogan, religiös, konservativ aber zupackend, galt als der grosse Erneuerer am Bosporus. Zehn Jahre später ist der Boom Geschichte und Menschen wandern aus der Türkei wieder aus, weil sie wirtschaftlich keine Perspektive sehen, oder auch politisch.
Die Angst geht um
«Hochqualifizierte Akademiker haben das Land verlassen. Sie haben ihre Stelle verloren oder haben Angst, verhaftet zu werden», sagt der Istanbuler Wirtschaftsanalytiker Atilla Yesilada. Darunter seien einige der Besten: «Doch wie will man die nächste Generation ausbilden, wenn man die originellen Denker zum Verstummen bringt?»
Die Türkei ist im Ausnahmezustand seit dem gescheiterten Putsch vor zwei Jahren. Sie bräuchte laut Yesilada neue Impulse. Das sei unbestritten. Erdogans einst so selbstsichere islamisch-konservative AKP sei inzwischen aber in einer Bunkermentalität gefangen: «Man hört nur noch das Artilleriefeuer der Gegner und die eigenen Stimmen.»
Ideologie statt Kompetenz
Der Präsident sei umgeben von Leuten, die wirtschaftlich wenig kompetent oder sehr ideologisch seien, führt Yesilada weiter aus. Für den schlechten Zustand der Wirtschaft machten sie böswillige ausländische Mächte verantwortlich. Eine Verschwörung manipuliere die türkische Währung, aus Neid auf Erdogans Erfolge in der muslimischen Welt, so das Argument auch im Wahlkampf.
Wenn die Renditen ausbleiben
Was stimmt ist, dass die internationale Finanzwelt die Türkei ebenso heftig abstraft, wie sie sie vorher umgarnt hat. Doch mit Verschwörung habe das nichts zu tun, betont Yesilada. Die Investoren scherten sich nicht darum, ob jemand muslimisch sei oder ein Christ, ein Diktator oder ein Vorzeigedemokrat. Das einzige, was sie interessiere, sei die Rendite, sagt Yesilada, der selber für den internationalen Finanzberater GlobalSourcePartners arbeitet.
Rendite aber ist offenbar in der Türkei nicht mehr zu holen. Allein seit Anfang Jahr hat die türkische Lira zum Dollar einen Fünftel ihres Werts verloren. Erdogan goss noch Öl ins Feuer. Er verkündete, die Zinsen müssten nicht angehoben, sondern gesenkt werden, um die Währung zu stabilisieren. Die Angst ging um, dass er die türkische Zentralbank ans Gängelband nehmen würde, um das durchzusetzen.
Trügerische Zahlen
Stattdessen hob die Zentralbank letzte Woche die Zinsen an, was die Lira etwas stärkte. Vorübergehend. Yesilada sieht darin aber nur eine Verzweiflungstat, nicht Einsicht in die Notwendigkeit eines politischen Kurswechsels.
Anfang Woche überraschte die Türkei mit kräftigen Wachstumszahlen von über sieben Prozent fürs erste Quartal. Erdogan nutzte auch das sogleich als Argument im Wahlkampf. Aber auch darin vermag der Finanzexperte keine Hoffnung zu erkennen: Die Zahlen reflektierten die Vergangenheit. Schon im nächsten Quartal werde es mit dem Wachstum vorbei sein.
Da ist der Einbruch der Währung. Auch die Inflation ist sehr hoch und das Handelsbilanzdefizit hat alarmierende Dimensionen erreicht. Die türkische Wirtschaft leidet an mehreren Fronten. Wie konnte es soweit kommen?
Leistungsfähige Industrie fehlt
Ein Teil des Problems sei im Boom seit der Jahrtausendwende angelegt, als die amerikanische und die europäische Notenbank billiges Geld druckten, sagt Mustafa Sönmez. Der ebenfalls in Istanbul ansässige Kolumnist und Buchautor zur türkischen Wirtschaft spricht von jener Zeit als «Dolce Vita», einer langen Phase voller Liquidität.
«Das billige Geld aber floss in den Konsum, in Smartphones, in den Bau, in Häuser, Brücken. Vor allem wurde gebaut», sagt Sönmez. Was Erdogan und seine AKP versäumt hätten, sei der Aufbau einer leistungsfähigen Industrie, die Qualitätsprodukte exportiert.
Denkzettel für Erdogan – oder mehr?
Bezahlen sie nun den politischen Preis? Die Wirtschaftskrise wird die Wahlen beeinflussen. Davon sind beide Experten überzeugt. Erdogans Chancen würden immer schlechter, glaubt Sönmez.
Laut manchen Umfragen könnte die AKP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verlieren. «Wenn es tatsächlich so weit kommt, könnte sich eine Dynamik des Wechsels einstellen», spekuliert der Wirtschaftskolumnist. Er schliesst nicht aus, dass dann in einem zweiten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen Erdogan selbst bedroht wäre.
Ende der Krise nicht absehbar
Auch Yesilada erwartet einen Denkzettel für die AKP. Dass Erdogan gleich stürzen könnte, bezweifelt er: Trotz seiner Schwächen sei der Präsident noch immer beliebt. Er habe eine sehr starke ideologische Wählerbasis, die empfänglich für seine nationalistische und religiöse Botschaft bleibe. Und zur Wirtschaft hält Yesilada fest: «Wenn wir aufhören würden, die Probleme zu leugnen, könnten wir die türkische Wirtschaft reparieren.» Doch bis dann werde das Land wohl noch durch eine sehr schwierige Phase gehen.