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Wo Franzosen ihre Heimat besser verstehen
Aus Echo der Zeit vom 02.05.2017. Bild: SRF
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Zweiter Wahlgang in Frankreich Wo Franzosen ihre Heimat besser verstehen

  • Die ausgewanderten Franzosen verfolgen das, was in ihrem Land passiert, sehr genau.
  • Eine besonders aktive und kreative Gemeinde von Auslandfranzosen hat sich in Freiburg im Breisgau niedergelassen. Dort, an der Grenze zum Elsass, leben etwa 1700 von ihnen.
  • Hin und wieder treffen sich einige Ausgewanderte in einem Café, huldigen französischen Chansons und reden dabei über die zurückgelassene Heimat. Ein Besuch.

Das kleine, alternative Café platzt aus allen Nähten. Wer kann, singt mit, oder versucht sich mit Hilfe der verteilten Blätter dem Songtext anzunähern. Auf der winzigen Bühne gibt ein Elektropiano die Melodie vor, und Valérie Batailler und Laurent Letondal singen beherzt ins Mikrofon. Mit ihrem «Café chantant» retten die beiden ihre französische Vergangenheit in die deutsche Gegenwart.

Beide sind aus Paris, haben sich aber in Freiburg im Breisgau kennengelernt. Sie, die Theaterfrau, vermisst nach vier Jahren noch immer die alte Heimat: «Ich fühle mich immer noch wie eine Französin, nicht wie eine Deutsche. Paris fehlt mir.»

Er, seit 14 Jahren in Freiburg, habe gar nie Zeit gehabt für Heimweh. «Als Pariser muss ich sagen, Freiburg ist klein, hat aber trotzdem eine eigene Dynamik, und Projekte sind möglich. Der Rahmen ist menschlich und trotzdem aufregend.»

Der gestresste Pariser – ein Klischee?

In Freiburg leben etwa 1700 Franzosen. Viele kennen sich, die Szene vermischt sich mit Deutschen in dieser offenen, grünen Stadt. Valérie hat eine Theaterschule mit 24 Schülern aufgebaut. Unmöglich wäre das in Paris; zu gross die Konkurrenz. Und erst der Seitenwechsel ermöglichte den unverstellten Blick auf die alte Heimat: «Seit ich im Ausland bin, verstehe ich mein Land besser.»

Was sie wahrnimmt, ist nicht schön: «Wenn man hört, die Pariser seien unangenehme Zeitgenossen und Individualisten – immer total gestresst und verschlossen gegenüber anderen: Ja, das stimmt.» Hier hingegen sei sie sehr offen aufgenommen worden. «Die Deutschen mögen die Franzosen sehr.»

Deutschunterricht mit den «Strebern»

Laurents deutsche Mutter zwang ihn einst in seiner Kindheit Deutsch zu lernen. Er hätte lieber, wie seine Freunde, Spanisch oder Englisch belegt. «Ich wollte nicht mit den Strebern zusammen Deutsch als erste Fremdsprache lernen.»

Er kennt sie gut, jene Franzosen, die «Streber», die sich für den deutschen Nachbarn mit der schwierigen gemeinsamen Geschichte interessieren. «Das sind keine Lebenskünstler, sondern eher Leute, die Struktur haben, eine gewisse Logik, und nicht so eine sinnlose Hierarchie wie in Frankreich», sagt Laurent. Die deutsche Struktur lockern sie hier gerne mit etwas französischer Verrücktheit auf.

Keine beruflichen Perspektiven für Junge

Auch Agnès Lamatsch hat einst in der Normandie Sprachen gelernt. Dass sie schliesslich in Freiburg gelandet ist, hat mit dem schwierigen Arbeitsmarkt in der Heimat zu tun. «Man hat in Frankreich klar gesehen, dass die Jugend ziemlich unzufrieden ist.» Sie könne das selbst auch ein wenig nachvollziehen: «Weil ich 2008 mein Studium abgeschlossen habe, zu Beginn der Wirtschaftskrise.»

Sie habe gedacht, für sie gebe es nichts. Deshalb sei sie woanders auf Jobsuche gegangen. «Das Gefühl ist sehr verbreitet unter jungen Arbeitern und Studenten.» Jetzt arbeitet die 31-Jährige als Projektassistentin, Französischlehrerin und Museumsführerin. Laurent ist froh, dass sein Sohn in Freiburg eine binationale Ausbildung bekommt und nicht dem elitären System in Frankreich ausgesetzt ist.

Kritik am zentralistischen System Frankreichs

«Das Bildungssystem in Frankreich ist komplett marode. Dort kein Abitur zu machen, bedeutet sein Leben vergeigt zu haben.» Er selbst flüchtete vor dem System und machte in Deutschland eine Lehre als Möbelschreiner. Laurent und Valérie, die beiden Pariser in Freiburg, beobachten auch mit schlechtem Gefühl, wie sich in Frankreich die ganze Kultur auf die Hauptstadt konzentriert. «Eine Stadt wie Freiburg wäre in Frankreich eine tote Stadt», konstatiert Laurent.

Für die Jugendlichen sei es besonders schwierig. Möglichkeiten gebe es nur für jene, die ohnehin auf der Sonnenseite stünden. «In Paris wird wahnsinnig viel gemacht, aber die meisten Jugendlichen sind in den Vorstädten.» Es werde falsch investiert, kritisiert Laurent. «In ländlichen Gebieten wird nichts angeboten.»

Es wird immer klarer: Wer sich in Freiburg niedergelassen hat, wird wohl auch hier bleiben. «Je länger ich bleibe, desto schwieriger wird es, nach Frankreich zurückzukehren», sagt Agnès. Und wer glaubt, dass man deshalb auf die süssen Seiten Frankreichs verzichten muss: Es gibt ja immer noch das «Café chantant».

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