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Zweiter Weltkrieg Korrespondent: «Russland ist für die eigenen Verbrechen blind»

Die Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg brachte 1943 die Wende im Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Diese Schlacht wird in Russland wieder zum Thema, denn ein Untersuchungskomitee hat ein Strafverfahren eröffnet. Dies habe auch mit dem herrschenden Zeitgeist in Russland zu tun, sagt SRF-Korrespondent David Nauer.

SRF News: Was soll nun untersucht werden?

David Nauer: Es gibt ein Strafermittlungsverfahren wegen Völkermords. Laut Ermittlungskomitee seien neue Archivdokumente aufgetaucht, die zeigen, dass in und um Wolgograd, dem früheren Stalingrad, mehrere Massengräber zu finden seien. Es sind Gräber von insgesamt 1800 Zivilisten. Diese Menschen wurden von den Nazis umgebracht und diese Morde sollen nun aufgeklärt werden.

Stimmen aus der Politik sagen, mitten in einer Pandemie so hochbetagte Menschen zu einer Zeugenaussage aufzubieten, sei nicht zumutbar.

Dazu werden Zeitzeugen aufgeboten. Haben diese dafür Verständnis, mitten in der Pandemie?

Nein, es gibt dafür viel Unverständnis. Stimmen aus der Politik sagen, mitten in einer Pandemie so hochbetagte Menschen zu einer Zeugenaussage aufzubieten, sei nicht zumutbar. Die ultimative Form der Aufforderung wird ebenfalls kritisiert, denn es hiess, wenn die Zeugen nicht erscheinen würden, könnten sie zwangsweise von der Polizei zum Ermittler gebracht werden. Das wurde später zwar relativiert.

Warum findet die Aufarbeitung gerade jetzt statt?

Wohlwollend betrachtet kann man argumentieren, dass die Augenzeugen der Kriegsjahre hochbetagt sind. So kann es sinnvoll sein, sie noch zu befragen. Doch der herrische Ton in diesen Vorladungen passt nicht dazu.

Russische Soldaten patrouillieren beim Denkmal von Stalingrad.
Legende: Russische Soldaten patrouillieren beim Denkmal von Stalingrad. Keystone

Millionen von Russen starben im Zweiten Weltkrieg, viele wurden von der Wehrmacht getötet. Geht es wirklich um juristische Aufarbeitung?

Ich habe gewisse Zweifel, dass es wirklich um eine juristische Aufarbeitung geht. Die Ermittlungsbehörde argumentiert selbst nicht juristisch, sondern geschichtspolitisch, indem sie schreibt, man müsse das Andenken an die Opfer hochhalten.

All die Verbrechen der sowjetischen Regierung an ihrem eigenen Volk werden auch nicht untersucht.

Man kann sich auch fragen, wieso ausgerechnet die Verbrechen der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad untersucht werden. Es gäbe eine Vielzahl von Orten in Russland, wo Kriegsverbrechen geschehen sind. Dazu kommen all die Verbrechen der sowjetischen Regierung an ihrem eigenen Volk. Die werden auch nicht untersucht.

Kam der Auftrag für die Untersuchung aus dem Kreml, von Wladimir Putin?

Dass dieser Auftrag konkret aus dem Kreml kam, glaube ich nicht. Aber es ist schon richtig: Es passt zum Zeitgeist, den Putin vorgegeben hat. Er hat den Zweiten Weltkrieg zu dem herausragenden Identifikationspunkt der russischen Geschichte gemacht. Die Russen und Russinnen sollen sich als Siegervolk fühlen. Das ist das Ziel diese Geschichtspolitik.

Was sagt diese Untersuchung von Stalingrad über die aktuellen Verhältnisse in Russland aus?

Ich finde ehrenwert, dass sich der russische Staat darum bemüht, auch die Zivilisten zu berücksichtigen, denn man hat lange nur der Soldaten gedacht. Aber es bleibt der Eindruck, dass diese Bemühungen eine politische, ideologische Färbung haben.

Der russische Präsident Wladimir Putin legt Blumen in Stalingrad nieder. Stalingrad heisst heute Wolgagrad.
Legende: Der russische Präsident Wladimir Putin legt Blumen in Stalingrad nieder. Stalingrad heisst heute Wolgagrad. Keystone

Dazu passt Folgendes: Einer der Senioren, der eine Aussage machen soll, wurde damals von den Nazis als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt.

Die Tragik ist: Diese Menschen wurden nach dem Krieg von der sowjetischen Regierung als Landesverräter gebrandmarkt und viele wurden erneut in Straflager gesteckt. Ihnen wurde noch mal Unrecht angetan, und zwar von den eigenen Leuten. Aber der russische Staat interessiert sich nur für die Verbrechen der anderen. Für die eigenen Verbrechen ist er blind.

Das Gespräch führte Salvador Atasoy.

SRF 4 News; 10.12.2020; 06:18 Uhr; ; 

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