Unzählige Male schon hat Richie Blink sein Motorboot gestartet und ist hinaus gefahren in die Bayous, in die schwer zugängliche Sumpflandschaft von Süd-Louisiana, die der Lokalpolitiker und Umweltschützer so sehr liebt. Nirgends fühle er sich der Natur so verbunden, wie hier, wo Land in Wasser übergeht, wo alles voller Leben sei.
Das untere Mississippi-Delta ist Brutgebiet für Wasser- und Zugvögel, Laichplatz für Fische und Amphibien, im Marschland verstecken sich Krebse und Alligatoren, Sumpfbiber und Fischotter. Das Delta ist ein Ort des Wachsens und Werdens, aber auch ein Ort von Tod und Vergänglichkeit. Und dies zunehmend.
«Diese Bäume hier sind alle tot. Das Land sinkt, der Meeresspiegel steigt und deshalb stehen die Wurzeln der Eichen zu oft und zu lange im Wasser und sterben ab», erklärt Richie Blink. Tote Bäume sind nur besonders gut sichtbare Zeichen des Verfalls. Ganz Süd-Louisiana versinkt langsam im Meer.
An der Küste herrscht Krise, wiederholt Chuck Perrodin, was Louisianas Gouverneur ganz offiziell erklärt hat. Perrodin ist Sprecher der staatlichen Küstenschutzbehörde in Louisianas Hauptstadt Baton Rouge. Deren Daten zeigen, dass seit den 1930er Jahren in Lousiana eine Landfläche so gross wie der Kanton Wallis verloren ging – ein Achtel der Schweiz.
Geologisch ist das Mississippi-Delta sehr junges Land. Es besteht aus Geschiebe, das der Mississippi seit der letzten Eiszeit abgelagert hat – und immer noch ablagern würde, wenn die Menschen es zuliessen.
Der gezähmte Fluss hat auch Nachteile
«Die grosse Flut vor 90 Jahren hat alles verändert», sagt Perrodin. 1927 überschwemmte der Mississippi eine Fläche fast doppelt so gross wie die Schweiz. Hunderttausende Menschen verloren Heim und Auskommen. Die Katastrophe war aber auch der Auslöser für den Bau des weltweit grössten Deichsystems. Der Mississippi wurde gezähmt, kanalisiert, eingedämmt – mit widersprüchlichen Folgen, wie Chuck Perrodin erklärt:
«Deiche und Dämme bieten der Bevölkerung Schutz und Sicherheit, gleichzeitig aber schwemmt der Mississippi nun praktisch all sein Geschiebe ins Meer und nicht mehr in die Marschlandschaft an der Küste.» So finde keine natürliche Landbildung mehr statt, während das bereits bestehende Land sich weiter senkt und erodiert. Das sei die Hauptursache für den dramatischen Landverlust.
Dazu kamen die Kanäle durch die Marschlandschaft für die Transportschiffe zu den wichtigen Häfen Louisianas und über 10'000 Meilen Pipelines der Öl- und Gasindustrie. Dank ihrer wirtschaftlichen Macht konnte diese in Louisiana jahrzehntelang nach Belieben schalten und walten.
Erst eine weitere Grosskatastrophe leitete ein Umdenken ein: Nach dem verheerenden Wirbelsturm Katrina 2005 bewilligte die Bundesregierung endlich genug Geld, um die Renaturierung der Küste Louisianas voran zu treiben.
Das Ziel: Schutz- und Renaturierungs-Projekte für 50 Milliarden Dollar in den nächsten 50 Jahren. Etwa die Hälfte der Finanzierung ist gesichert – nicht zuletzt wegen der 14 Milliarden Dollar, die der britische Ölkonzern BP nach der katastrophalen Ölpest von 2010 im Golf von Mexiko bezahlen musste.
Die Lösung: Überflutungsprojekte
Am meisten Hoffnung setzen Umweltschützer und Wissenschafter auf die sogenannte «Sediment-Diversions»: An strategisch ausgewählten Punkten soll der Mississippi wieder kontrolliert seine Umgebung überfluten dürfen.
Getestet wird die Idee vorerst an einem weltweit einzigartigen, fast fussballfeldgrossen Modell in einer Halle auf dem Campus der Louisiana State University in Baton Rouge. Es bilde die unteren 190 Kilometer des Mississippi-Rivers nach, erklärt Programm-Spezialist Joseph McClatchy.
«Die Forschenden leiten Wasser und Sedimente durchs Modell und berechnen die Auswirkungen auf die Umgebung, wenn der Damm zwischen Fluss und Marschland geöffnet wird.» Zwei solch kontrollierte Überflutungsprojekte sind bereits bewilligt.
Überflutung ärgert Fischer
Das erste soll in acht Jahren fertig sein, 1,3 Milliarden Dollar kosten und mehrmals im Jahr pro Sekunde bis zu 200 Kubikmeter sedimentreiches Mississippiwasser in das umliegende Marschland leiten. Sediment-Umleitungen werden die Küstenerosion zwar nicht gänzlich stoppen können, aber doch bremsen, hoffen die Ingenieure.
«Mag schon sein», schimpft Fischer William Maurer in Buras, Louisiana, 200 Kilometer südlich von Baton Rouge. Was aber auf lange Sicht vielleicht von Vorteil sei, schade ihm aber jetzt ganz gewaltig: Die Fische, die er fange, aber auch Crevetten und Austern, lebten im Salzwasser. Wenn nun Süsswasser in die Laichgebiete fliesse, verdränge das die Tiere.
William Maurer ist krank und verbittert. Katrina hat sein Haus verwüstet, die BP-Ölverschmutzung seine Gesundheit ruiniert und seit Jahren sind die Preise für Fische und Crevetten so tief, dass es sich kaum lohnt, das Boot flott zu machen.
Vielen seiner Berufskollegen geht es gleich. Wenn ihnen jetzt auch noch die Umweltschützer die Arbeit erschweren, ist das für sie ein Unglück zu viel.
Fischer leiden am meisten wegen Landverlust
Der Lokalpolitiker und Umweltschützer Richie Blink hat viel Verständnis für die Fischer. Als Sohn eines Berufsfischers kennt er deren Sorgen und Nöte und weiss, dass sie am wenigsten für den Landverlust können und am meisten darunter leiden. Dennoch müssten auch sie weitere Opfer bringen. Es sei ein Dilemma, aber Veränderung, das gehöre nun mal zum Leben an Louisianas Küste.
Wie lange er und seine Nachbarn das allerdings noch durchhalten können, weiss Richie Blink auch nicht. So lange wie möglich halt und auf so viel Land wie möglich – dafür müssten sie ihr bestes geben.