Zerknautscht und zerfleddert lugt es heute noch aus mancher Hosentasche hervor: das Reclam-Büechli. Wie ist es zum Aufstieg des kanariengelben Publikationserzeugnisses gekommen? Und warum behauptet es sich heute noch?
Die Voraussetzungen
1867 lassen zwei Bedingungen in Leipzig die Reclam-Universal-Bibliothek entstehen: Erstens eine Neuordnung des deutschen Urheberrechts: Literarische Texte werden 30 Jahre nach dem Tod des Urhebers gemeinfrei, die Klassiker stehen also plötzlich zur freien Verfügung. Zweitens die Erfindung eines neuen Verfahrens zur Papierherstellung: Neu lässt sich Papier nicht mehr nur aus tierischen, sondern auch aus pflanzlichen Fasern herstellen und somit günstig produzieren.
Der Anfang
Der Reclam-Verlag eröffnet sein Geschäft mit der Edition von Goethes Tragödie «Faust». Für das Heftlein in Fraktur-Schrift müssen die damaligen Bücherwürmer nicht allzu tief in die Taschen greifen. Zwei Silbergroschen kostet das Stück – so viel, wie damals ein Stück Seife oder ein Liter Milch.
Der Aufschwung
Nach der Gründung wächst die Universal-Bibliothek rasch, um etwa 140 Titel pro Jahr. In den 1910er- und 1920er-Jahren sind die Hefte so beliebt, dass sie Reclam über 2000 Automaten vertreibt. Selbst im Ersten Weltkrieg haben die Büechli Konjunktur; in «tragbaren Feldbüchereien» liefern sie den Soldaten eine «Auswahl guter Bücher für Schützengraben und Standquartier».
Der Vertrieb
Der Reclam-Verlag wird schon 1828 in Leipzig gegründet. Im Jahr 1947 entsteht zudem ein Firmensitz in Stuttgart, der die Bücher zunächst mit einem Lizenzvertrag im Westen vertreibt. Im Jahr 1980 bezieht Reclam dann das neue Verlags- und Druckereigebäude in Ditzingen (Kreis Ludwigsburg), wo der Verlag heute noch seinen Sitz hat.
Da wird nichts geblufft, da wird nichts beschissen, das ist wirklich präzise, solide Editionsarbeit.
Das Geschäft
Fast 20'000 Titel hat Reclam bis heute verlegt, 3000 davon sind ständig lieferbar. Der Gesamtabsatz der Reihe liegt bei 0,6 Milliarden Exemplaren. Seit 1948 führt Schillers «Wilhelm Tell» die Bestsellerliste an mit 5,4 Millionen Mal verkauften Exemplaren. Ihm folgen Goethes «Faust» und Gottfried Kellers «Kleider machen Leute».
Die Farbe
Kanariengelb, wie sie heute aus privaten Bücherregalen leuchten, sind die Büechli nicht von Anfang an. Viele Titel erscheinen zunächst noch mit hellrosarotem Umschlag. Erst 1970 lässt der Verlag die kleinformatigen Werke in gelb edieren. Wenn die gelben Reclam-Hefte auch die berühmtesten sind, gibt es in der Universal-Bibliothek auch andersfarbige Ausgaben: blau die Lektüre-Schlüssel für Schüler, rot die fremdsprachige Literatur, orange die zweisprachigen Texte, grün die Erläuterungen und Interpretationen und magenta die Sachbücher.
Der Wert
So tief der Preis für den Leser, so hoch der Wert für den Philologen. Laut Ulrich von Bülow, Leiter Abteilung Archive am Deutschen Literaturarchiv Marbach, stammen die Reclam-Büechli meist aus der Frühzeit der Autoren, als diese noch wenig berühmt und wenig reich waren. Eben dann hätten sie sich die billigen Reclam-Bändchen zugelegt und oft intensiv mit ihnen gearbeitet. Dies liesse sich an Unterstreichungen und Anmerkungen nachvollziehen.