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Bereits Ende 2019 in Europa? Das Coronavirus grassiert schon länger

Die Geschichte der Pandemie muss umgeschrieben werden: Mysteriöse Lungenerkrankungen entpuppen sich als Covid-19.

So lautet die offizielle Chronologie der Ereignisse: Anfang Dezember treten in der chinesischen Stadt Wuhan Fälle einer mysteriösen Lungenentzündung auf. Am 11. Januar wird in China der erste Todesfall registriert. Bis das Virus Europa erreicht, dauert es bis zum 24. Januar: Frankreich registriert drei Fälle.

Diese Darstellung entspricht aber wohl nicht den Tatsachen. In Frankreich könnte es bereits im Dezember einen Coronavirus-Fall gegeben haben. Die Infektion wurde erst diese Woche bestätigt.

Der Fall Amirouche Hammar

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Beim 43-Jährigen aus der Nähe von Paris wurde die Infektion erst im Nachhinein entdeckt. Er habe Ende Dezember trockenen Husten, Fieber, Müdigkeit und schwere Atembeschwerden gehabt, sagte Hammar dem Sender BFMTV. Im Krankenhaus wurde eine Lungeninfektion diagnostiziert. Man habe ihm nicht sicher sagen können, was er hat – nur, dass es sehr ernst wäre. Nach wenigen Tagen konnte er das Krankenhaus wieder verlassen.

Die Ärzte einer Klinikgruppe bei Paris haben nun bereits entnommene Proben von Menschen mit schweren Atemwegsinfektionen noch einmal getestet – und zwar auf Sars-CoV-2. Es handelte sich um Patientinnen und Patienten, bei denen damals keine sichere Diagnose gestellt werden konnte. Von mehreren getesteten Proben war eine positiv auf Covid-19 – sie war von einem Patienten, der am 27. Dezember in die Klinik eingeliefert wurde: Amirouche Hammar.

Der Fall in Frankreich steht nicht isoliert da. Es gebe schon länger Vermutungen, dass Covid-19 früher ausgebrochen sei als bisher angenommen, erklärt SRF-Wissenschaftsredaktor Thomas Häusler. Deswegen wurden in einigen Ländern Blutproben von Patienten erneut untersucht, die im Dezember an untypischen Lungenentzündungen erkrankt sind. «In Italien hat man einen Fall gefunden, der schon im Januar an Covid-19 gestorben ist», sagt Häusler.

Intubierter Patient in Tessiner Spital
Legende: Am 25. Februar 2020 gab es in der Schweiz den ersten bestätigten Coronavirus-Fall. Könnten auch Menschen, die schon früher Symptome wie Fieber, Husten und Gliederschmerzen hatten, an Covid-19 erkrankt sein? Keystone/Symbolbild

Weitere Hinweise liefert Forschern das Erbgut des Coronavirus. Mittlerweile gibt es Tausende Proben quer über den Globus, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entnommen wurden. Häusler erklärt, wie sich daraus Schlüsse ziehen lassen: «Wenn sich das Virus vermehrt, macht es bei der Vervielfältigung seines Erbguts immer wieder kleine Fehler. Es entstehen Mutationen, die meist kaum Einfluss auf das Virus selbst haben – sie sind aber wie Marker, die man verfolgen und vergleichen kann.»

Chinas Rolle bleibt umstritten

Entsprechende Analysen deuteten auf einen Beginn der Pandemie im November hin – oder eventuell noch früher. Man müsse davon ausgehen, dass das Virus in China früher als gedacht aufgetreten sei. «Recherchen zeigten schon vor einigen Wochen, dass dort vieles vertuscht worden ist.»

Auch die Frage, wo das Virus erstmals aufgetaucht ist, ist hochbrisant. Die US-Regierung wirft China vor, das Virus entstamme einem Labor in Wuhan. Mit den verfügbaren Daten und Analysen liesse sich diese Frage aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht klären, sagt der Wissenschaftsredaktor.

Frühe Fälle auch in der Schweiz?

«Stand heute rechnet die Mehrzahl der Forscher mit einem Start der Pandemie in China – nicht zwingend in Wuhan. Trotz der heftig diskutierten amerikanischen Vermutungen gehen sie aber von einem natürlichen Ursprung aus.» Also, dass das Virus von einem Tier auf den Menschen übergesprungen ist.

WHO ist nicht überrascht

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Ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnete die positive Coronavirusprobe in Frankreich von Ende Dezember als «sehr interessant, aber nicht überraschend». In Wuhan habe es schon im Dezember mysteriöse und zunächst nicht als Infektionen mit einem neuen Virus erkannte Lungenerkrankungen gegeben. Menschen aus Wuhan könnten das Virus bei Reisen im Dezember unbewusst nach Frankreich und in andere Länder eingeschleppt haben.

Könnte das Virus auch in der Schweiz schon im Dezember oder Januar zirkuliert sein? Durchaus möglich, sagt Häusler. Aber: «Ich nehme an, dass es in der Schweiz nicht so stark zirkuliert ist. Italien war ja viel früher und viel heftiger betroffen. Das weist darauf hin, dass es dort schon früher viel mehr Fälle gab.»

Ein ungewöhnliches Symptom von Covid-19 ist der vorübergehende Verlust des Geschmacks- oder Geruchssinns. Das Phänomen trete wohl bei rund der Hälfte der Infizierten auf, sagt Häusler: «Wer zu der betreffenden Zeit darunter gelitten hat, könnte Covid-19 durchaus schon gehabt haben.»

SRF 4 News, 08.05.2020; 10:15 Uhr ; 

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