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Eine «Semenya-Regel» Fairness am falschen Ort

Mann oder Frau – an dieser Frage arbeiten sich die grossen internationalen Sportverbände schon seit Jahrzehnten ab, allen voran der internationale Leichtathletik-Verband IAAF und das Internationale Olympische Komitee IOC.

Die Testosteron-Regel, die heute vom internationalen Sportgerichtshof in Lausanne für rechtens befunden wurde, ist nur der jüngste aus einer ganzen Reihe von Versuchen, die Startbedingungen für Frauen zu klären. Doch ein Grenzwert von maximal 5 nmol Testosteron pro Liter Blut hält einer genauen wissenschaftlichen Prüfung nicht stand.

1.8 bis 4.5 Prozent bessere Leistung

Zum einen ist Testosteron nur eines von verschiedenen Sexual-Hormonen, die sowohl Männer wie auch Frauen in ihrem Körper haben – Männer durchschnittlich mehr als Frauen, aber die Konzentrationen schwanken stark von einer Person zur anderen und auch im Verlauf der Zeit. Es sind vielschichtige und komplexe Prozesse, die dazu führen, dass ein Mensch sich zu einer Frau oder einem Mann entwickelt. Da eine Grenze anhand eines einzigen Messwertes zu ziehen, greift zu kurz.

Zum anderen ist die wissenschaftliche Basis für die Testosteron-Regel wacklig: Zwei Forscher hatten im Auftrag der IAAF die Blutproben von gut 1300 Spitzen-Leichtathletinnen ausgewertet. Ein Vergleich der Testosteron-Konzentration mit den jeweiligen sportlichen Leistungen ergab: In den fünf Disziplinen 400 Meter, 400 Meter Hürden, 800 Meter, Stabhochsprung und Hammerwurf erbrachten Athletinnen mit einem höheren Testosterongehalt eine um 1.8 bis 4.5 Prozent bessere Leistung als ihre Konkurrentinnen.

Eine «Semenya-Regel»

Übernommen hat der IAAF die Resultate nur bedingt: So fallen 400 Meter, 400 Meter Hürden und 800 Meter unter die Testosteronregel, aber auch 1500 Meter und der Lauf über eine Meile – Distanzen, die zu Caster Semenyas Paradedisziplinen gehören – ohne, dass es dafür wissenschaftliche Gründe gibt.

Genau umgekehrt beim Hammerwurf und Stabhochsprung: Für diese beiden Disziplinen wies die Studie gar die grössten Leistungsunterschiede auf zwischen Athletinnen mit höheren und solchen mit geringeren Testosteronwerten – unter die neue Regel fallen sie aber nicht. Es bleibt der Eindruck übrig, als handle es sich bei der Testosteron-Regel um eine «Semenya-Regel».

Lieber beim Doping genau hinschauen

Der IAAF will die neue Testosteron-Regel in Kraft setzen, um «für mehr Fairness im Frauensport zu sorgen». Doch allein unter jenen Blutproben, die die IAAF als Grundlage für diese neue Regelung auswerten liess, waren mindestens gleich viele Proben von gedopten Sportlerinnen wie von Athletinnen mit natürlicherweise erhöhten Testosteron-Werten.

Wenn der internationale Leichtathletikverband tatsächlich etwas für mehr Fairness im Frauensport tun will, dann wären seine Anstrengungen sicherlich effektiver, wenn er sie in Anti-Doping-Massnahmen fliessen liesse statt in ein wissenschaftlich wacklig abgestütztes Regelwerk.

Cathrin Caprez

Wissenschaftsredaktorin SRF

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Cathrin Caprez hat Chemie studiert und mehrere Jahre lang in der chemischen Analytik gearbeitet. Seit 2016 arbeitet sie als Wissenschaftsredaktorin bei SRF.

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