Beim Filmfestival in Cannes gibt es einen grossen Abwesenden: Netflix. Der Streamingdienst hat alle Filme vom Festival zurückgezogen. Was dahintersteckt, sagt SRF-Filmexperte Michael Sennhauser.
SRF News: Wie ist es zum Konflikt zwischen dem Festival und Netflix gekommen?
Michael Sennhauser: Netflix ist mittlerweile einer der grossen Filmproduzenten. Etliche Autorenfilmer machen Filme für die Streamingplattform. Cannes möchte solche Filme zeigen. Letztes Jahr war das kein Problem. Aber dann kam die französische Vereinigung der Filmverleiher und der Kinobetreiber und verlangte, dass die Filme, die in Cannes im Wettbewerb laufen, im Kino gezeigt werden müssen. Netflix dagegen beharrt darauf, die Filme nicht im Kino, sondern auf der eigenen Plattform zeigen zu wollen. Deshalb hat Cannes entschieden, einen Netflix-Film nicht im Wettbewerb zu zeigen.
Was steckt hinter dieser Entscheidung?
Sämtliche Filme, die in Frankreich im Kino gezeigt werden, zahlen Abgaben. Aus diesem Geld werden wieder französische Filme produziert. Das heisst, wenn Netflix in Frankreich die Kinos umgeht, umgeht es auch die Kultur- und Kinosteuern.
Das Ganze ist ein rein politisches Seilziehen.
Es ist letztlich ein kulturpolitischer Streit, der sich am Wettbewerb von Cannes entzündet. Dass nun auch die anderen Netflix-Filme nicht in Cannes laufen, liegt daran, dass das Unternehmen überreagiert hat. Weil es nicht am Wettbewerb teilnehmen darf, hat es auch alle anderen Filme zurückgezogen.
An der Kinokasse lässt sich seit Jahren nur schwierig Geld verdienen. Kann das Festival weiterbestehen, wenn es sich gegen diese neuen Produzenten wehrt?
Ich glaube schon. Cannes-Chef Thierry Frémaux hat klargestellt, dass das Kino für den Wettbewerb in Cannes nach wie vor die erste Plattform sei. Man wolle nicht darauf verzichten. Netflix könnte ja die Filme überall in der Welt streamen – ausser in Frankreich. Aber das Unternehmen hat nun ausprobiert, wie stark es im Vergleich zu diesem altehrwürdigen Festival ist. Das Ganze ist ein rein politisches Seilziehen. Frémaux hat gesagt, man sei jetzt bei Episode zwei in der Geschichte mit Netflix, und nächstes Jahr werde es eine Episode drei geben.
Was sagt Netflix?
Der CEO von Netflix, Reed Hastings, hat in den letzten Tagen verlauten lassen, dass man wahrscheinlich überreagiert habe. Man sei klar dafür, dass es Regeln und lokale Kulturen gebe, und man wolle nicht einfach überall hineintreten. Es ist also eine gewisse Annäherung der Kontrahenten spürbar.
Wagen Sie eine Prognose?
Wahrscheinlich wird es nächstes Jahr eine Regelung geben, die sowohl für Cannes als auch für Netflix funktioniert. Cannes hält die kulturelle Fahne hoch und besteht darauf, dass man etwas nicht bloss deshalb ändern will, weil sich die Technologie geändert hat. Zum einen ist das Festival konservativ, zum anderen gegen den Markt gerichtet. Franzosen sagen immer, es gebe neben dem Markt auch noch die Kultur.
Das Gespräch führte Sonja Mühlemann.