Beim Lesen hinken Schweizer Schülerinnen und Schüler ihren Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern hinterher. Ihre Leseleistung liegt laut aktueller Pisa-Studie unter dem Schnitt der OECD-Länder. Dabei lesen Jugendliche viel, vor allem auf dem Smartphone. Der Hirnforscher Peter Gerjets über die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Lesen.
SRF News: Was halten Sie vom Pisa-Befund?
Peter Gerjets: Für mich ist dies beängstigend. Lesekompetenz hat mit Lebenschancen zu tun. Wer schlecht liest, tut sich auch schwer im Begreifen naturwissenschaftlicher Fragestellungen. Die Folgen für die Gesellschaft sind gravierend. Milliarden könnten volkswirtschaftlich verloren gehen.
Gibt es Unterschiede zwischen dem Lesen digitaler und ausgedruckter Texte?
In unseren Versuchen können wir genau beobachten, was beim Leseprozess passiert. Konkret ist das Arbeitsgedächtnis derjenige Ort, welcher fürs Lesen und Lernen wichtig ist. Es ist eine Art innerer Schreibtisch, auf welchem die Gedanken und Informationen sortiert werden. Die Messungen der Augenbewegungen und Hirnströme zeigen klar: Dieser innere Schreibtisch wird beim Lesen digitaler Texte ungleich stärker belastet als bei gedruckten Texten.
Worauf ist diese stärkere Belastung beim digitalen Lesen zurückzuführen?
Ein digitaler Text, beispielsweise Wikipedia, enthält sehr oft Bilder, Werbung und Links. Diese zusätzlichen Elemente lösen im Kopf Impulse aus. Man überlegt sich, wo man hinschauen und was man anklicken soll. Kurzum: Es handelt sich um Ablenkungen und Verführungen. Gibt man ihnen nach, leidet unweigerlich das Textverständnis.
Kinder und Jugendliche sollen das klassische Lesen ausgedruckter Texte nicht vernachlässigen.
Gedanken und Textzusammenhang gehen verloren. Links und Bilder lenken aber selbst dann ab, wenn sie nicht aufgemacht werden. Denn das Unterdrücken von Impulsen kostet Kraft und belastet das Arbeitsgedächtnis. Die Folge: Fürs Leseverständnis wichtige Ressourcen werden unnötig verschwendet.
Folglich sind ausgedruckte Texte besser, weil weniger Ablenkung droht?
Ja. Das Lesen analoger, also ausgedruckter Texte, liefert eine bessere Leseunterstützung. Dies hat mit der Materialität zu tun. So erlauben Seiten und Seitenzahlen eine bessere Orientierung. Studienergebnisse zeigen, dass beim klassischen Bücherlesen eine tiefere und längere Verarbeitung der Informationen möglich ist.
Ausserdem lernt man dabei, sich nicht ablenken zu lassen. Lesen ist nämlich etwas, das man lernen kann und muss. Das Gehirn ist wie ein Muskel, den es zu trainieren gilt. Im Umkehrschluss heisst dies aber auch: Zu wenig Training lässt den Muskel verkümmern. Und weil das Internet ein denkbar schlechter Trainingsort für tiefes und konzentriertes Lesen ist, rate ich: Kinder und Jugendliche sollen das klassische Lesen ausgedruckter Texte nicht vernachlässigen.
Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die Leseförderung an den Schulen?
Bei allem Ablenkungspotential – digitales Lesen soll und muss Platz haben. Es bietet nämlich tolle neue Möglichkeiten. Um einer ungesteuerten Nutzung entgegenzuwirken, sind vor allem auch die Schulen gefragt. Da braucht es sinnvolle Unterrichtskonzepte. Auch die Anbieter digitaler Lernmaterialien sind gefragt: Es braucht gute Texte, passende Bilder und sinnvolle Links. Schliesslich müssen die Schülerinnen und Schüler lernen, wie sie sich im Internet zurechtfinden können. Diese Kompetenzen werden heute immer noch zu wenig gefördert.
Das Gespräch führten Stephan Rathgeb und Christoph Leisibach.
Pisa-Rangliste im Bereich Lesekompetenz
1. China (Peking, Shanghai, Jiangsu, Zhejiang) | 555 Punkte |
2. Singapur | 549 Punkte |
3. Macau | 525 Punkte |
4. Hongkong | 524 Punkte |
5. Estland | 523 Punkte |
6. Kanada | 520 Punkte |
6. Finnland | 520 Punkte |
8. Irland | 518 Punkte |
9. Südkorea | 514 Punkte |
10. Polen | 512 Punkte |
20. Deutschland | 498 Punkte |
22. Frankreich | 493 Punkte |
27. Österreich | 484 Punkte |
27. Schweiz | 484 Punkte |
32. Italien | 476 Punkte |
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