«Warum braucht ein lebensmüder Mensch eine Lizenz zum Sterben?»: Diese Frage warf Werner Kriesi, ehemaliger Präsident der Sterbehilfeorganisation Exit, im vergangenen Juni im Zürcher Volkshaus auf. Und erntete dafür, wie die NZZ berichtete, spontanen Applaus des Publikums.
Der Freitod für alle jene, die nicht mehr leben möchten? Was an der jährlichen Generalversammlung der Sterbehilfeorganisation auf breite Zustimmung stiess, ist in breiteren Gesellschaftsschichten noch Tabu. Genauso wie das Thema Sterben an sich.
Viele Leute sprechen schon mit 30, 40 Jahren mit ihrem Hausarzt über Euthanasie.
Ganz anders ist die Stimmungslage in den Niederlanden. Dort ist der selbstbestimmte Tod kalte Normalität: «Ich staune immer wieder, wie selbstverständlich diese Diskussionen im Alltag geführt werden», sagt Elsbeth Gugger, Mitarbeiterin von SRF. Sie lebt seit mehr als 25 Jahren in Amsterdam.
Noch immer verblüfft sie, wie offen in den Niederlanden über das für viele Menschen Unaussprechliche gesprochen wird. Und wie unbefangen sich schon junge Menschen auf den Tag X vorbereiten: «Viele Leute sprechen schon mit 30, 40 Jahren mit ihrem Hausarzt über Euthanasie.»
Regisseur über das Leben – und den Tod
Die liberale Regelung des sogenannten Euthanasie-Gesetzes reicht vielen Niederländern aber nicht mehr. Vor allem ältere Menschen, unter ihnen auch namhafte Politiker, fordern nun: Senioren, die ihr Leben als erfüllt betrachten, sollen aus dem Leben scheiden dürfen. Nicht alle von ihnen möchten das heute oder morgen machen, berichtet Gugger: «Sie haben aber Angst, dass sie dereinst die Regie über ihre Leben verlieren könnten, und das wollen sie unter allem Umständen verhindern.»
Speerspitze der Bewegung, die für eine weitere Liberalisierung der Sterbehilfe eintritt, ist die niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE). Eine Stiftung der Sterbehilfeorganisation setzt sich seit 2012 auch für Menschen ein, deren Sterbewunsch vom behandelnden Arzt verweigert wird. Oft sind es Menschen, die an schweren psychischen Krankheiten leiden, oder Demenzpatienten.
Die «Todespille» in der Hausapotheke
Gugger erinnert sich, wie sie 2002 nach Einführung des Euthanasie-Gesetzes mit dem Präsidenten der Organisation sprach. Er habe nichts davon wissen wollen, dass sein politischer Kampf nun am Ende sei. Im Gegenteil: «Er sagte mir, dass er sich jetzt für die Pille von Drion – eine Todespille – einsetzen will. Diese möchte er den Mitgliedern bei NVVE in einer Schale anbieten, damit sie sich bei Bedarf bedienen können.»
Die Aussage sei damals «ziemlich heftig» gewesen. Sie habe zwar eine zaghafte Diskussion ausgelöst: «Vielen ging die Todespille aber viel zu weit.» In den letzten Jahren ist die Debatte in den Niederlanden neu aufgeflammt. Mitverantwortlich dafür war auch der Dokumentarfilm eines 71-Jährigen, der seiner fast 100 Jahre alten Mutter half, ihren Sterbewunsch zu erfüllen: «Der Mann hat alles gefilmt, um eine Diskussion loszutreten», so die SRF-Mitarbeiterin. Er wurde zwar schuldig gesprochen, bekam aber keine Strafe.
Sterben für den kleinen Geldbeutel
Nun hat sich eine Vereinigung namens «Kooperation letzter Wille» dem Tod auf Bestellung verschrieben. Die 18’500 Mitglieder der Organisation können sich für 180 Euro zwei Gramm eines tödlichen Medikamentes liefern lassen – samt Mini-Safe zur sicheren Aufbewahrung. Zum Vergleich: Wer die Dienste von Dignitas oder Exit in Anspruch nimmt, muss mit Kosten von mehreren tausend Franken rechnen.
«Die Kooperation bietet den ‹Service› erst seit kurzem an. Noch haben sich erst sehr wenige Menschen das Gift auch tatsächlich beschafft», sagt Gugger. Ungeachtet der Verbreitung der Todespille: Die Debatte in den Niederlanden hat Fahrt aufgenommen.
Denn: «Die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Anliegen der älteren Menschen ist sehr gross», sagt Gugger. Die Organisation «Voltooid Leven» (deutsch: «erfülltes Leben») hatte sich zuletzt einen politischen Durchbruch erhofft, nämlich die Aufhebung des Verbotes zur Selbsttötung.

Ungünstiges politisches Klima
Allerdings dürfte dieses Anliegen unter der derzeitigen Regierungskoalition kaum mehrheitsfähig sein. Noch vor kurzem sei das politische Klima für die weitere Liberalisierung der Sterbehilfe zwar günstig gewesen, berichtet Gugger: «Um eine mehrheitsfähige Regierung bilden zu können, musste Premier Mark Rutte die Christenunion ins Boot holen. Und damit sind die Chancen auf eine Aufhebung des Verbots gesunken.»
Das Fazit der langjährigen Kennerin der niederländischen Politik: Betagte, die ihr Leben als erfüllt betrachten, müssten weiter warten, «oder aber Mitglied der ‹Kooperation letzter Wille› werden.» Denn die Regierung Rutte, auch bekannt als «Rechts mit der Bibel», dürfte kaum zum letzten Tabubruch beim Freitod bereit sein.
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