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Der Stausee, der einen Volksaufstand provozierte
Aus Regionaljournal Zentralschweiz vom 17.07.2020. Bild: Archiv CKW
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Kraftwerk im Urserntal Als ein Stausee-Projekt ganz Andermatt zu versenken drohte

Vor gut 100 Jahren sollte das Urserntal einem Stausee weichen. Die Bevölkerung verteidigte ihre Heimat «bis aufs Blut».

Andermatt (UR), 19. Februar 1946: Es ist eine dieser kalten, ungemütlichen Winternächte. An anderen solchen Tagen ist es ganz still im Dorf, die Menschen bleiben zuhause, und der frische Schnee schluckt alle Geräusche. Doch heute ist es anders. Heute haben sich vor dem Hotel Sonne im Dorfzentrum gut 250 Andermatter – vorwiegend junge Burschen – versammelt. Die Stimmung ist aggressiv. Die Burschen drängen sich um einen einzelnen Mann; sie fluchen ihn an, schlagen auf ihn ein und treten ihn mit den Füssen. Einer schreit: «Werft ihn über die Teufelsbrücke!»

«Mehr Energie als alle anderen Kraftwerke zusammen»

Der Mann, der hier um sein Leben fürchten muss, ist Karl J. Fetz – ein Ingenieur, der im Auftrag der Centralschweizerischen Kraftwerke CKW nach Andermatt gekommen ist. Er soll im Bergdorf Land aufkaufen, die CKW will es unter Wasser setzen. Das ganze Urserntal mit den Dörfern Andermatt, Hospental und Realp soll in den Fluten eines Stausees verschwinden – eines Stausees sechsmal so gross wie der Hallwilersee. Er hätte ein Drittel der damaligen Schweizer Bevölkerung mit Strom versorgen können.

Visualisierung der Staumauer ob der Teufelsbrücke
Legende: Die Staumauer wäre in der Schöllenenschlucht, oberhalb der Teufelsbrücke, gebaut worden. Vom niedersten zum höchsten Punkt hätte sie genau 218 Meter gemessen. Visualisierung der CKW, 1945. Archiv CKW

Die Idee zum Stausee Urserntal tauchte zum ersten Mal im Jahr 1920 auf. Die Wasserkraft versprach damals, den wegen der Industrialisierung geweckten Hunger auf Elektrizität zu stillen. Sehr schnell habe man da an das Urserntal gedacht, sagt der Historiker Erich Haag. «Es gibt in den ganzen Alpen wahrscheinlich keine bessere Sperrstelle als das Urserntal. Mit einer relativ kleinen Staumauer von gut 220 Metern Höhe hätte man das ganze Tal abriegeln und als Speicher benutzen können. Dieser Speicher hätte mehr Energie produziert als alle bis dahin in der Schweiz gebauten Kraftwerke zusammen.»

Heimatverlust für 2000 Menschen

Das Stausee-Projekt geisterte rund 20 Jahre durch die Büros der CKW, wurde immer wieder etwas angepasst, doch nie richtig angepackt. Dann kam der Zweite Weltkrieg und Nazideutschland drosselte seinen Kohleexport. Die Schweiz, wo damals vorwiegend mit Kohle geheizt wurde, stand vor einem Versorgungsproblem. Importierte Kohle war für 73 Prozent der Schweizer Energieproduktion verantwortlich.

Bildvergleich

Regler nach links verschiebenRegler nach rechts verschieben
Legende:So sähe der Stausee aus, wenn das Urserntal geflutet worden wäre.SRF

Den drohenden Versorgungsengpass vor Augen, schaltete die CKW bei der Planung des Kraftwerks Urserntal einen Gang hoch. Es gab jedoch ein Problem: Im Tal lebten gut 2000 Menschen, die durch den Stausee ihre Heimat verloren hätten. Sie wehrten sich ab Stunde null. Und sie taten dies gut organisiert. «Durch die jahrhundertealte Tradition der Talgemeinden waren es sich die Ursener gewohnt, öffentliche Angelegenheiten zu ordnen und zu behandeln», sagt Erich Haag.

Keine Solidarität der Schweizer Presse

Mit Kundgebungen, Talgemeinden und Flugblättern wurde das ganze Tal auf den Widerstand eingeschworen. Die älteren Leute im Dorf erinnern sich noch heute daran. Zwei von ihnen sind Ludwig und Berta Regli, die heute verheiratet sind, sich damals aber noch nicht kannten. Mittlerweile sind sie schon länger pensioniert und leben noch immer Andermatt. «Die Leute hatten Angst, das Tal zu verlieren», sagt Ludwig Regli, «alles, was uns unsere Vorfahren hinterlassen hatten, sollte im Wasser verschwinden. Das konnte man nicht begreifen.»

Ludwig Regli umarmt seine Frau Berta Regli
Legende: Ludwig und Berta Regli sind in Andermatt geboren, aufgewachsen, haben da ihre Kinder aufgezogen und bleiben auch für die Pension. SRF

Berta Regli ergänzt: «Das hätte die totale Entwurzelung der Ursener Bevölkerung bedeutet. Einige wären vielleicht auf den Nätschen gezogen, andere das Tal hinunter - die Gemeinschaft wäre auseinandergefallen.» Das Projekt sollte um jeden Preis bekämpft werden. «Wir verhandeln nicht, wir verkaufen nicht und wir gehen nicht», war das Motto.

Durch die gute Organisation konnten die Ursener die Regierung in Altdorf und auch das Kantonsparlament für sich gewinnen. Uri stand geschlossen hinter dem Widerstand. Doch an der Kantonsgrenze war fertig mit der Solidarität. «Es gab nur wenig Echo. Die Schweizer Presse hatte kein Interesse an einem abgelegenen Tal», sagt Historiker Haag.

Wut im Tal nimmt zu

Derweil trieb die CKW das Projekt weiter voran. Im Jahr 1944 waren die Pläne für das Kraftwerk komplett ausgearbeitet. Die Ingenieure wussten genau, wo sie mit dem Bau der Staumauer beginnen müssten. Die CKW liess auch Gemälde und Plakate anfertigen, die das geflutete Urserntal zeigten. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, oberhalb des Stausees ein neues Dorf mit dem Namen «Neu-Andermatt» oder «Urseren» zu errichten. Auf eigens angefertigten Postkarten konnten die Ursener sehen, wie ihre Heimat versenkt werden sollte.

Visualisierung des Stausees
Legende: Die CKW liess Plakate, Gemälde und auch Postkarten anfertigen, die das geflutete Urserntal zeigen. Visualisierung, um 1945. Archiv CKW

Die Stimmung im Tal kippte. Berta Regli erinnert sich an den Satz ihrer damals über 80-jährigen Grossmutter: «Wehrt euch bis aufs Blut!», soll diese beschworen haben. Lange wussten die Ursener nicht wohin mit ihrer Wut. Historiker Erich Haag: «Die Talbevölkerung bekam von der gesamten CKW nie jemanden zu Gesicht – ausser einen Mann. Das war der arme Ingenieur Fetz.»

Sündenbock Karl J. Fetz

Am 19. Februar 1946 findet der über Jahre angestaute Frust der Ursener ein Ventil. Ingenieur Karl J. Fetz kommt an diesem Dienstagabend mit dem letzten Zug nach Andermatt, um die nächsten Tage über Landkäufe zu verhandeln. Seine Ankunft spricht sich Dorf herum. Junge Burschen ziehen um die Häuser und skandierten: «Der Fetz ist da! Der Fetz ist da!» Viele weitere Dorfbewohner schliessen sich ihnen an, bis der Mob auf etwa 250 Leute anwächst. Vor dem Hotel Sonne macht die Menge Halt. Hier, wissen sie, will Fetz übernachten. Ein schwerer Mann drückt die verschlossene Türe des Hotels ein. Er packt den Ingenieur, der sich im Säli versteckt hat, an der Krawatte und zerrt ihn auf die Strasse.

Zerstörtes Büro
Legende: Während der sogenannten Krawallnacht am 19. Februar 1946 zertrümmerten die aufgebrachten Andermatter auch ein Architekturbüro. Archiv CKW

Die 250 Andermatter drangsalieren den verängstigten Fetz, treten und schlagen ihn. Einer schreit: «Werft in über die Teufelsbrücke!» Der damals 16-jährige Ludwig Regli war dabei. Heute noch ist er sich sicher, dass dieser Ausruf ernst gemeint war. «Es ging wirklich hart auf hart. Das zeigt, wie gross unsere Wut gegen dieses Projekt war.»

Es blieb bei der Drohung, der Gemeindepräsident von Andermatt und der Bürgerpräsident der Korporation Ursern eilten Karl Fetz rechtzeitig zu Hilfe und nahmen ihn in Schutz. Der Ingenieur überlebte den Abend mit Prellungen, Blutergüssen und einem grossen Schock. Die jungen Burschen zogen weiter und zertrümmerten noch ein Architekturbüro, das an der Planung des Projekts beteiligt war. Sie sollten mit milden Geldstrafen davonkommen.

Plan zum Stausee Ursern
Legende: Das Wasserkraftwerk Ursern war bis ins Detail ausgearbeitet. Diese Karte aus dem Projektbeschrieb von 1945 zeigt die gefluteten Dörfer und Strassen und die geplanten Ersatzbauten. Archiv CKW

Gewalt als Lösung?

Für den Stausee war dieser Abend der Anfang vom Ende. Das Projekt wurde zwar noch eingereicht, doch im Jahr 1951 definitiv zurückgezogen. Im Nachhinein stellt sich die Frage: War Gewalt in diesem Fall tatsächlich die Lösung? Ludwig Regli ist überzeugt davon. «Ohne diesen Volksaufstand wäre alles ganz anders gekommen. Und zwar nicht gut.»

Historiker Erich Haag ist anderer Meinung. «Der Aufstand hat das Ende beschleunigt, aber sicher nicht bewirkt.» Das Projekt wäre dank des jahrelangen, in demokratischen Strukturen organisierten Widerstands auch sonst gescheitert, ist Haag überzeugt. «Und das sagt auch etwas über das Schweizer System aus. Solche Projekte lassen sich in der Türkei oder in China gegen den Willen der Menschen durchsetzen. Bei uns zum Glück nicht.»

Grosse Ideen – grandios gescheitert

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Regionaljournal Zentralschweiz, 23. Juli 2020, 17:30 Uhr

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