Das Bundesgericht stellt nicht in Frage, dass die Ansteckung mit dem HI-Virus eine Körperverletzung darstellt. Eine solche Infektion sei in jedem Fall eine komplexe seelische und körperliche Belastung, heisst es im Urteil. Ob es sich dabei aber um eine einfache oder um eine schwere Körperverletzung handelt, muss laut dem Bundesgericht aber neu beurteilt werden.
Nicht mehr zwingend tödlich
Das Bundesgericht begründet sein Urteil mit dem Fortschritt in der Medizin: Wer heute mit dem HI-Virus angesteckt wird, werde nicht mehr in jedem Fall krank. Neue Medikamente können heute den Ausbruch von Aids hinausschieben und die Vermehrung der HI-Viren im Körper aufhalten. HIV-Infizierte haben laut dem Bundesgericht heute fast die gleiche Lebenserwartung wie gesunde Menschen.
Aidsorganisationen begrüssen den Richtungswechsel
Dass das Bundesgericht die gängige Rechtssprechung hinterfragen will, sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, sagt zum Beispiel Harry Witzthum von der Aidshilfe Schweiz. «Wir haben immer gefordert, dass die Infektion realistisch angeschaut wird, dass genau hingesehen wird, worum handelt es sich da heute.» Dabei gehe es keinesfalls darum, eine Ansteckung mit HIV zu bagatellisieren. Eine Änderung hin zu einer leichten Körperverletzung wäre für die Betroffenen aber wichtig, weil harte Strafen kontraproduktiv seien:
Wenn Betroffene nicht zum Arzt gehen aus Angst, bestraft zu werden, ist das eine negative Konsequenz des Strafrechts, die wir nicht sehen wollen.
Auch bei der Aidseelsorge Zürich wird die Praxisänderung begrüsst. Dies sei auch bei den Betroffenen so, versichert der Leiter Bruno Willi. Sogar bei denen, die von ihrem Partner angesteckt worden seien. In seiner 12jährigen Tätigkeit habe er es sehr selten erlebt, dass jemand seinen Partner vor den Kadi habe zerren wollen.
Obergericht muss neue Fakten beschaffen
Der reine Umstand, dass jemand seinen Partner oder seine Partnerin bewusst mit dem HI-Virus ansteckt, ist also für das Bundesgericht nicht mehr automatisch eine schwere Körperverletzung. Für ein solches Urteil braucht es zusätzliche Fakten, fordert das Bundesgericht. Zum Beispiel in Form eines Gutachtens, das zeigt, was es heute heisst, wenn jemand mit einer HIV-Infektion leben muss. Diese Fakten zu beschaffen, ist nun die Aufgabe des Zürcher Obergerichts. Es könnte auch zum Schluss kommen, dass es sich bei einer Ansteckung mit dem HI-Virus nach wie vor um schwere Körperverletzung handelt. Dann würde alles beim Alten bleiben.