«Das sind Bilder, die mir nie mehr aus dem Kopf gehen», sagt Roland Squaratti, damals und heute Gemeindepräsident von Gondo. Am 14. Oktober 2000 hat er miterlebt, wie die grosse Schlammlawine auf das Dorf am Simplonpass zukam.
Sie hat das Gemeindebüro mitgerissen, in dem er fünf Minuten zuvor noch war. Insgesamt zehn Häuser wurden weggeschwemmt, 13 Menschen verloren ihr Leben. Zwei von ihnen waren die Brüder von Roland Squaratti.
«Das vergisst man nie mehr im Leben», sagt der Gemeindepräsident auch 20 Jahre nach der Katastrophe von Gondo. Auch die Einwohner des Dorfes wissen noch genau, wie es war. «Da hat für uns eine neue Zeitrechnung begonnen», sagt eine Gondonesin.
Einwohnerinnen, Retter, Überlebende – sie erinnern sich zurück. Zurück an die Katastrophe, an den Wiederaufbau und an die Narben, die geblieben sind. Sie sprechen darüber, was sie gelernt haben und was auch noch heute nicht bewältigt wurde.
Ein Hilferuf, der durch Mark und Bein ging
Beginnen wir an diesem Samstag, 14. Oktober 2000. Nachdem die Schlammlawine fast ein Dutzend Häuser und das Wahrzeichen von Gondo, den Stockalperturm, mitgerissen hatte, fehlte vom Feuerwehrkommandanten jede Spur. Das war der Bruder des Gemeindepräsidenten Roland Squaratti. Er selber musste also das Zepter übernehmen.
Dabei hat Roland Squaratti ausgeblendet, dass er Familienangehörige vermisste: «Es gab so viel Arbeit, so viele Entscheidungen zu treffen.» Nur wenige Minuten nach der Katastrophe sendete der Gemeindepräsident im Lokalradio einen Hilferuf. «Wir müssen hier raus. Wir brauchen Helikopter aus Italien oder sonst woher. Wir müssen die Leute hier wegbringen, die Leute müssen hier weg.»
Der Hilferuf geht heute noch unter die Haut. Gehört hatten ihn nicht nur die Retter, sondern auch die Nichte von Roland, Daiana Squaratti. Sie war damals 18 Jahre alt und servierte in Visp in einem Restaurant: «An seiner Stimme habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hatte Angst, das hörte man.»
Später erfuhr sie, dass ihr Vater und Onkel vermisst und bis heute nicht gefunden wurden. «Das ist für uns seit 20 Jahren die Realität. Da wurde alles auf Null gesetzt, eine neue Zeitrechnung hat begonnen.»
Gondo war zwar am stärksten betroffen, aber auch andere Orte im Oberwallis wurden von der Umwelt abgeschnitten, Häuser wurden mitgerissen und Menschen kamen ums Leben. Das Unwetter führte in mehreren Gemeinden zu grossen Schäden.
In der Gemeinde Baltschieder hinterliess der Bach ein Bild der Verwüstung. Immerhin: Die Bewohner des Dorfes konnten rechtzeitig evakuiert werden. Auch in Mörel wurden mehrere Personen evakuiert, weil ein Haus weggeschwemmt wurde.
In Neubrück bei Stalden jedoch forderte das Unwetter zwei Menschenleben. Ein Restaurant samt Wohnung sowie ein weiteres Wohnhaus wurden von den Wassermassen mitgerissen. Zwei Frauen kamen dabei ums Leben. Gemeindepräsident Egon Furrer war vor 20 Jahren bei der Feuerwehr tätig und sofort vor Ort, als es passierte. Heute erinnert er sich: «Das war unbegreiflich, alles war zerstört. Wir wussten gar nicht, wo wir anfangen sollten.»
Ohne Hilfe von aussen wäre es unvorstellbar gewesen, dies zu bewältigen.
Jemand habe bemerkt, da seien noch Leute unter den Trümmern. «Wir waren sieben oder acht Leute auf diesem Haus und haben versucht, die schweren Balken unter uns zu bewegen. Chancenlos war das.»
Ein zweiter Murgang am Tag danach hat weitere Häuser mitgerissen. Alle Bewohnerinnen und Bewohner von Stalden mussten evakuiert und verpflegt werden. «Ohne Armee und Zivilschutz, ohne Hilfe von aussen wäre es unvorstellbar gewesen, dies zu bewältigen», sagt Gemeindepräsident Egon Furrer.
Hilfe und Solidarität
Die Anteilnahme aus der ganzen Schweiz und dem angrenzenden Ausland war gross. 74 Millionen Franken sammelte die Glückskette für die Unwetter im Wallis und im Tessin. Ein Drittel des Geldes ging an die zwei am stärksten betroffenen Gemeinden Gondo und Baltschieder. Neben Rettungs- und Aufräumarbeiten gab es auch beim Wiederaufbau Hilfe. Mittlerweile sind die Dörfer wieder aufgebaut, jedoch stehen noch nicht alle vorgesehenen Schutzbauten.
Niemand möchte, dass eine solche Katastrophe noch einmal geschieht. Die Gemeinde Baltschieder wollte darum viel Geld in Hochwasserschutzbauten investieren, doch auch 20 Jahre danach sind diese Arbeiten längst nicht abgeschlossen. Wirtschaftliche Interessen sind dem Schutz der Bevölkerung in den Weg gekommen.
Jahrelanger Rechtsstreit
Um Baltschieder zu schützen, wurde nach der Katastrophe als Sofortmassnahme eine grosse Mauer errichtet. Ein paar Jahre später kam ein Becken hinzu, um Steine aus dem Baltschiederbach zurückzuhalten. Das reichte aber nicht, sagten Experten des Bundesamts für Umwelt.
Für weitere Bauten genehmigte die Walliser Kantonsregierung zwar längst 17 Millionen Franken. Dafür müsste jedoch ein Kieswerk zurückgebaut werden, wogegen sich der Betreiber seit Jahren wehrt. Gemeindepräsident René Abgottspon fühlt sich deshalb nicht immer wohl in seiner Rolle als politischer Verantwortlicher von Baltschieder: «Wenn es ein bisschen länger regnet, schaue ich sofort, wie viel Wasser daherkommt.»
In diesem Sommer hat die Gemeinde die Anlagen des Kieswerks räumen lassen, sie möchte im nächsten Jahr mit dem Bau der zusätzlichen Schutzbauten beginnen. Das juristische Hickhack geht aber weiter: Die Betreiberfirma des Kieswerks ist der Meinung, die Gemeinde habe ihre Anlagen widerrechtlich abgerissen. Darum ist offen, ob auch 21 Jahre nach dem Unglück die Schutzbauten stehen werden.
Was ist aus Gondo geworden?
Während Baltschieder weiter darum kämpft, eine erneute Katastrophe zu verhindern, ist Gondo seither nicht mehr wirklich ein Dorf. Es hat ein paar Tankstellen, zwei Restaurants, eine Kirche, ein paar Häuser und eine praktisch verlassene Zollstation. Aber nur die Pass-Strasse, die durch das Dorf über den Simplon führt, wird rege genutzt. Ansonsten sind die Strassen leer.
Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind seit der Katastrophe auch nicht mehr zurückgekehrt. Die Einwohnerzahl hat sich halbiert, von 161 auf heute 75. Wobei sogar nur um die 40 von ihnen auch tatsächlich das ganze Jahr über hier wohnen. Spätestens, seit der Zoll 2017 seinen Sitz von Gondo nach Brig verlegte, haben auch viele Grenzwächter keinen Grund mehr, in Gondo zu leben. Heute gibt es keinen einzigen Primarschüler und auch praktisch keinen Verein mehr.
Man kann Leute nicht einfach entwurzeln wie einen Baum.
Hat sich der aufwendige Wiederaufbau also überhaupt gelohnt? Ja, findet Elsi Jordan, die vor 60 Jahren nach Gondo gezogen ist: «Uns die Heimat wegzunehmen, wäre eine zweite Katastrophe für uns gewesen.»
Der Wiederaufbau sei nicht nur eine Verpflichtung gegenüber den Überlebenden und Toten gewesen, sondern auch gegenüber den vielen Menschen, die dafür Geld gespendet hätten, sagt Gemeindepräsident Roland Squaratti.
Therapie für die Bewohner
Hoffnung macht der 28-jährige Gastronom Sebastian Squaratti. Er berichtet von Besucherinnen und Besuchern, die in sein Restaurant kämen: «Die Leute wollen immer und immer wieder dieselbe Geschichte hören – die Geschichte von den Unwettern im Jahr 2000.»
Er zeige ihnen dann jeweils ein Buch mit Eindrücken von der Katastrophe. Das Buch müsse er aber jedes Jahr ersetzen, weil die Seiten vom häufigen Blättern hinausfielen. «Das ist unglaublich, das hätte ich nie gedacht.»
Ich musste so oft wiederholen, was genau passiert ist, dass ich dies verarbeiten konnte.
Immer wieder hat auch der Gemeindepräsident Roland Squaratti über das Unglück gesprochen. Jetzt, 20 Jahre danach – aber auch damals, als das Unglück passierte. Immer und immer wieder. «Ich musste so oft wiederholen, was genau passiert ist, was ich gemacht habe, wo ich war, dass ich diese Katastrophe verarbeiten konnte.» Das ständige Wiederholen des Unglücks als Therapie für die Einwohnerinnen und Einwohner von Gondo.