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Bieler Gymnasiast beim IS Dschihadisten-Mutter enthüllt Terrorplan in der Schweiz

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Fall eines Bieler Gymnasiasten sorgte für Schlagzeilen, als Dschihad-Reisen noch kein bekanntes Phänomen waren.
  • Der Sohn palästinensischer Flüchtlinge war 2011 nach Somalia gezogen, wurde in Kenia verhaftet und tauchte später in Syrien auf.
  • Nun zeigen «10 vor 10»-Recherchen: Auch die Eltern des Jungen waren Dschihad-Sympathisanten. Die Mutter behauptet gar, ihr Mann habe an Geheimtreffen teilgenommen, bei denen Terroranschläge in der Schweiz geplant worden sein sollen.

Der frühere Bieler Gymnasiast war einer der bekanntesten Fälle von Dschihad-Reisenden aus der Schweiz. Der Sohn palästinensischer Flüchtlinge aus Jordanien war 2011 nach Somalia zur Al Shabaab-Miliz gereist. 2012 wurde er in Kenia verhaftet, später tauchte er auf Schlachtfeldern in Syrien aufseiten von Terrororganisationen auf.

Nun zeigen Recherchen von «10 vor 10», wie weit auch seine Eltern in die Welt gewaltbereiter Islamisten involviert waren. So soll der Vater an geheimen Treffen teilgenommen haben, bei denen ein Terroranschlag in der Schweiz geplant wurde. Das schreibt ausgerechnet seine Frau in einer über 700-seitigen Schrift, in der sie ihren Sohn als Märtyrer verherrlicht. Das Dokument wurde Journalisten von SRF und «Tages Anzeiger» als PDF-Datei zugespielt.

Anschlagspläne für die Schweiz?

Die Mutter berichtet darin auch von Treffen, die nach den Anschlägen des 11. September 2001 stattgefunden haben sollen. «In jener Zeit [wurde] mein Mann zu einem geschlossenen Geheimtreffen gerufen, an dem neben meinem Mann und Abu M. [...] eine Anzahl von jungen Leuten, die als Jihadis bekannt waren, anwesend waren. Bei diesem Treffen wurde unterbreitet, eine jihadische Tat gegen die Schweiz durchzuführen.»

Der Anschlag sollte die angebliche Unterstützung der Schweiz für den Krieg gegen Taliban und Al Kaida in Afghanistan vergelten. Umgesetzt wurde er offensichtlich nicht – die Mutter schreibt, das Vorhaben sei gescheitert, weil die Beteiligten zu weit auseinander gewohnt hätten. Gemeint ist damit vermutlich ein erhöhtes Risiko, dass das Vorhaben auffliegt, weil Reisen und Kommunikation nötig geworden worden wären.

Mehrere Übersetzer

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Die entsprechende Textseite hat «10 vor 10» von zwei Übersetzern ins Deutsche übertragen lassen, zusätzlich hat Professor Reinhard Schulze von der Universität Bern die Übersetzung bestätigt. Er sagt: «Hier heisst es eindeutig: ‹Die Durchführung einer jihadischen Tat gegen die Schweiz›. Und wenn man das liest – auch als unvoreingenommener Mensch – so ist klar: Es ist eine Verabredung zu einer terroristischen Tat gemeint – das kann nichts Anderes bedeuten.» Man müsse das sehr ernst nehmen, so Schulze.

Verdächtigter wohnt noch in der Region

Wie die Mutter des Gymnasiasten in dem Dokument schreibt, seien 2004 einige Muslime verhaftet worden. Der Text lässt den Eindruck entstehen, es handle sich dabei um Teilnehmer der früheren Geheimtreffen, darunter Jemeniten.

Tatsächlich wurden Ende 2003 und Anfang 2004 insgesamt zehn Personen in verschiedenen Kantonen verhaftet, darunter auch Jemeniten. Der Vorwurf: Unterstützung von Terrorismus. Hintergrund war ein Anschlag in Riad 2003, Spuren führten in die Schweiz. Vom Hauptvorwurf wurden dann aber alle Beschuldigten freigesprochen.

Waren damals also Personen in Haft, die gar einen Anschlag in der Schweiz in Erwägung zogen? Wussten die Behörden davon? Und wenn sich die Treffen so zugetragen haben, wie von der Mutter berichtet: Hat die Polizei dies übersehen?

Für Terrorismus-Ermittlungen zuständig ist heute die Bundesanwaltschaft (BA). Diese macht auf Anfrage keine näheren Angaben, bestätigt aber, sie habe im Mai 2012 ein Strafverfahren eröffnet wegen des Verdachts der Unterstützung beziehungsweise Beteiligung an einer kriminellen Organisation (Art. 260ter StGB). Das Verfahren sei später sistiert worden.

Dabei dürfte es sich um das Strafverfahren gegen den ehemaligen Bieler Gymnasiasten handeln. Weil sein Tod nicht amtlich bestätigt ist, liegt das Verfahren auf Eis. Damals wollte die Polizei auch den Vater befragen.

Ein mutmasslicher Teilnehmer der Treffen winkt ab

Wie weit die Polizei zwischen 2001 und 2004 allenfalls auf diese Geheimtreffen aufmerksam geworden ist, lässt sich somit noch nicht abschliessend klären. Einer der Teilnehmer der Geheimtreffen ist gemäss der Verfasserin ein gewisser Abu M. Dabei handelt es sich nach Recherchen von «10 vor 10» um einen Mann, der noch heute in der Region Biel wohnt.

Ein Interview mit «10 vor 10» hat der Mann abgelehnt. Bei einem Treffen sagt er, die Darstellung der Verfasserin des Textdokuments sei «lachhaft», solche Geheimsitzungen habe es nie gegeben. Er würde der Schweiz nie schaden wollen.

Allerdings weist der Mann mehrere Berührungspunkte zur damaligen Dschihadisten-Szene der Region und angeblichen Sitzungsteilnehmern auf: Im Rahmen des Terrorismusverfahrens 2004, in dem zehn Personen verhaftet wurden, wurde Abu M. von der Bundeskriminalpolizei in Bern befragt, das bestätigt er im Gespräch.

Die Ermittler hätten sich vor allem für seine Beziehung zu einem Jemeniten interessiert. Und diesen kenne er tatsächlich. Der Jemenite hat später eine Firma von Abu M. übernommen. Er war der Hauptverdächtige im Verfahren 2004, wurde in den Hauptpunkten aber freigesprochen. Abu M. sagt, heute unterhalte er keinen Kontakt mehr zu ihm.

Eltern tauchten unter

Die Eltern des ehemaligen Gymnasiasten und späteren Dschihadisten haben die Schweiz offenbar 2015 verlassen. Anfang jenes Jahres waren sie von der Polizei vorgeladen worden für eine Befragung als Zeugen im Strafverfahren gegen ihren Sohn. Dazu kam es aber nicht mehr, weil die Eltern die Wohnung in Biel von einem Tag auf den anderen verliessen. In der Stube brannte noch Licht, die meiste Habe liessen sie zurück, wie Nachbarn sagen.

Bisher war über ihren Verbleib nichts mehr bekannt geworden. Jetzt zeigen Recherchen von «10 vor 10», dass die Eltern nach Syrien gereist sind – ins damalige Territorium des selbst ernannten «Islamischen Staates» (IS).

Eine IS-Aussteigern bezeugt dies im Interview mit «10vor10», sie hat die Mutter anhand eines Bildes eindeutig identifiziert. Die Mutter sei nach Syrien gereist, um ihrem Sohn zu helfen, der beim IS in Ungnade gefallen war.

Die Aussteigerin wohnt heute in einer deutschen Grossstadt, in der damaligen IS-Hochburg hat sie mehrere Monate in einer Frauenunterkunft mit der Mutter des Bieler Gymnasiasten zusammengewohnt, während zweier Wochen sogar im gleichen Zimmer. Die Mutter habe ihrem Sohn helfen wollen, berichtet sie, denn dieser war inzwischen beim IS in Ungnade gefallen, weil er die Organisation öffentlich kritisiert hatte. Mittels Briefen und Eingaben bei IS-Verwaltungsstellen habe sie seine Freilassung erwirken wollen. Das gelang ihr nicht, im Sommer 2015 wurde der Sohn vom IS getötet.

Dann wurde die Mutter von ihrem Mann aus der Frauenunterkunft herausgeholt, die beiden hätten sich in Rakka niederlassen wollen, so die IS-Aussteigerin. Gegenüber der Terrororganisation sei die Mutter trotz Festnahme und Tötung ihres Sohnes nicht gänzlich negativ eingestellt gewesen, so die Aussteigerin. Sie habe an die Idee des Kalifats geglaubt, jedoch – wie ihr Sohn – die Umsetzung als zu wenig konsequent kritisiert.

Zum Dschihadisten erzogen

Das Gedankengut der Mutter des Gymnasiasten offenbart sich auch in dem über 700-seitigen Textdokument, das sie verfasst hat, und wovon «10 vor 10» erste Teile übersetzen und analysieren konnte. Sie wähnte sich in der Schweiz in einer feindlichen Umgebung, sah Spione und Verräterinnen an allen Ecken, auch in der muslimischen Gemeinschaft.

Ihren Sohn hat sie nach eigenen Schilderungen praktisch zum Dschihadisten erzogen, das sieht auch der Berner Islamexperte Reinhart Schulze so. «Es gibt keine Stelle in dem Buch, jedenfalls habe ich keine gelesen, woraus ersichtlich würde, dass die Mutter sagt: ‹Es war falsch von dir, in den Dschihad zu ziehen.› Stattdessen liest man immer nur: ‹Er ist als Märtyrer gestorben, er ist gerechtfertigt in den Dschihad gezogen, er hat vielleicht nicht den richtigen Moment erwischt und – vor allen Dingen – er hat sich mit einer gewissen Naivität mit der Umgebung befasst, die ihm letztendlich nur schaden wollte.›»

Und so hat die Mutter – wie der Vater – den Sohn denn auch nicht von der Abreise nach Somalia 2011 abzuhalten versucht, wie es in der Schrift der Mutter heisst. Die Eltern hielten die Reise in den Kampf für verfrüht, hätten es bevorzugt, er hätte in der Schweiz noch ein Studium abgeschlossen, auch um die angeblichen Feinde im Westen besser zu verstehen.

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