Fünf Richter haben bisher die Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreten. Alle waren sie Professoren. Recherchen von Radio SRF zeigen nun, dass die Schweiz erstmals einen reinen Praktiker nach Strassburg schicken könnte.
Die zuständige Parlaments-Delegation hat in den letzten Tagen eine Dreierliste zuhanden des Bundesrats verabschiedet, wie Delegations-Präsident und Ständerat Filippo Lombardi auf Anfrage bestätigt.
Auf der Dreierliste stehen zwei Männer und eine Frau; das Prof.-Kürzel trägt niemand. Ist dies ein Richtungswechsel? Immerhin werden die Professoren am EGMR nicht selten kritisiert, als zu akademisch und zu aktivistisch.
Die Auswahl freut die Schweizerische Vereinigung der Richter. Ihr Präsident, Patrick Guidon, sagt: «Wir begrüssen es, dass drei Persönlichkeiten mit langjähriger Gerichtserfahrung zur Wahl vorgeschlagen sind.»
Gemäss Menschenrechtskonvention müssen Strassburger Richter nicht zwingend richterliche Erfahrung mitbringen – in Frage kommen durchaus auch Rechtsgelehrte. Der letzte Schweizer am EGMR, der sowohl einen Richterrucksack als auch einen Professorentitel mitbrachte, war bis 2006 der Basler Völkerrechtsprofessor Luzius Wildhaber; er präsidierte den Gerichtshof auch. «Es ist begreiflich und vernünftig, dass man jetzt einen Richter wählt.»
«Heikles Spannungsfeld»
Die letzten beiden Schweizer am EGMR waren Professoren ohne Richtererfahrung. Fragt sich also: Fehlte diesen etwas? «Die konkrete Tätigkeit dieser Personen kann und möchte ich nicht bewerten, aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bewegt sich in einem heiklen Spannungsfeld zwischen einer dynamischen Rechtsprechung einerseits und der nationalen Souveränität andererseits», so Guidon.
In der Vergangenheit sei dem Gerichtshof dieser Spagat nicht immer geglückt. «Richter mit richterlicher Erfahrung in ihrem eigenen Heimatland können unseres Erachtens besser zwischen geltendem Recht und dem, was allenfalls wünschenswert ist, unterscheiden.»
Aktivistisch oder passiv?
Der Strassburger Gerichtshof dehne sich also in Domänen aus, die nichts mehr mit Grundrechten zu tun haben. Nur: Sind daran tatsächlich Professoren ohne praktische Richtererfahrung schuld? Wildhaber relativiert: Die tägliche Arbeit von Strassburger Richtern bestehe vor allem aus dem Abwägen in Einzelfällen, für grosse neue Theorien sei da kaum Platz.
Aber: «Die Theorien haben die Bedeutung, dass die meisten Richter, die kommen, Spezialisten der Menschenrechte sind und daher aus Sicht der Richter mehr auf der aktivistischen Seite figurieren.»
Mit «aktivistisch» meint auch Wildhaber eine «Tendenz, die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention stets auch auf neue Problemfelder auszudehnen und damit das Gesamtfeld der Menschenrechte auszudehnen». Wobei das nicht schlecht sein müsse, so Wildhaber: Im Bereich der sozialen Medien etwa habe der Gerichtshof noch nicht viele grundlegende Urteile gefällt.
Eine Lanze für Professoren ohne Richtererfahrung bricht der Völkerrechtsprofessor Bardo Fassbender von der Uni St. Gallen: «Man könnte zum Beispiel den Vergleich zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ziehen. Dem Gericht wird auch der Vorwurf gemacht, es sehe das internationale Strafrecht in einer expansiven Weise. Nur: Dort sitzen praktisch nur Richter».