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Coronakrise in der Schweiz Journalist: «Ich schaue verwundert auf mein eigenes Land»

«Coronakrise in der Schweiz: Die Menschen sterben, das Leben läuft munter weiter», titelte der «Spiegel» am Mittwoch. Heute werden zwar weitere schärfere Massnahmen des Bundesrates erwartet, aber im Vergleich zu den Nachbarländern fährt die Schweiz einen lockeren Kurs. Unsere deutschen Nachbarn wundern sich, sagt der Auslandchef des «Spiegels» Mathieu von Rohr, der selber Schweizer ist.

Mathieu von Rohr

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Mathieu von Rohr (geb. 1978 in Lausanne) leitet das Auslandressort beim «Spiegel».

SRF News: Was hat Deutschland in Bezug auf die Coronakrise für eine Sicht auf die Schweiz?

Mathieu von Rohr: Dass es einen Schweizer Weg gibt, haben die Deutschen wahrscheinlich erst vor kurzem gemerkt. Man hat lange gar nicht auf die Schweiz geschaut. Aber das Explodieren der Zahlen, die immer stärker ausgelasteten Intensivbetten und dann vor allem die Nachricht, dass die Skigebiete in der Schweiz weiter geöffnet sind, hat bei der Mehrheit der Leute für zunehmendes Befremden gesorgt.

Wie erklärt sich Ihr deutsches Umfeld den Schweizer Umgang mit Corona?

Ich glaube, so eine richtige Erklärung hat niemand. Die Mehrheit der Deutschen sehen die Schweiz eigentlich als ein sehr gut funktionierendes, pragmatisches Land – und wundern sich einfach darüber. Der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, sagte, das sei der Preis für den Kommerz. Man wirft der Schweiz vor, das Geschäft über das Leben zu stellen. Aber das ist natürlich nur eine Einzelstimme.

Alles, was man an der Schweiz so schätzt, hat sich in der Krise als Problem erwiesen.

Doch ich muss sagen, dass ich vor allem als Schweizer in Deutschland selber gerade etwas verwundert auf mein eigenes Land blicke, weil ich es mir nicht so richtig erklären kann, wie es dazu kommen konnte. Alles, was man an der Schweiz so schätzt – das gute Regierungssystem, das pragmatische Handeln, der Föderalismus –, hat sich in der Krise als Problem erwiesen. Ich finde es ein bisschen traurig mit anzusehen, wie sich die Schweiz gerade präsentiert.

Am Mittwoch hat Ihr Magazin, der «Spiegel», einen Artikel unter dem Titel «Coronakrise in der Schweiz: Die Menschen sterben, das Leben läuft munter weiter» veröffentlicht. Was gab es für Reaktionen darauf?

Unser Korrespondent aus Wien, Walter Mayr, ist nach St. Gallen gefahren, und für ihn war das ein bisschen eine Reise in eine Parallelwelt. Das ist einfach seltsam, wenn man aus dem Ausland kommt und die Spassbäder, die Restaurants noch geöffnet sind und man auf den Säntis fahren kann. Der Artikel wurde sehr stark gelesen und auch kommentiert. Wie das möglich ist, dass man so hohe Zahlen hat und das Leben eben munter weitergeht: Das ist wohl wirklich ein Kuriosum für alle, die nicht in der Schweiz wohnen. Und das haben wir beschrieben.

Sie kennen die Schweiz wie Deutschland sehr gut. Zeigt sich im Umgang mit der Coronakrise das unterschiedliche Politikverständnis der beiden Länder?

Auf jeden Fall. Die Schweizer haben natürlich ein sehr viel geringeres Staatsbedürfnis, wollen grundsätzlich, dass der Staat sich aus Dingen raushält. In Deutschland erwartet man mehr vom Staat. Noch stärker ist es in Frankreich, wo die Massnahmen noch härter und der Widerstand dagegen geringer war.

Wenn niemand Verantwortung übernehmen will, ist das schon auch ein Systemversagen.

Ich glaube allerdings auch, dass es nicht nur das andere Staatsverständnis ist. Wir haben gesehen, dass das Schweizer System in dieser Krise an seine Grenzen gerät. Die Kantonsregierungen wollen nichts entscheiden, und der Bundesrat könnte zwar entscheiden, will aber nicht, weil es ihm unangenehm ist, so viel Macht zu haben. Wenn niemand Verantwortung übernehmen will, ist das schon auch ein Systemversagen.

Das Gespräch führte Marlen Oehler.

SRF 4 News, 18.12.2020, 6.22 Uhr ; 

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