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Schweiz Fahrende in der Schweiz: «Jemand muss etwas machen»

Rund 3000 Menschen in der Schweiz sind Fahrende. Sie ziehen von Ort zu Ort und bieten ihr Handwerk an. Ihr Ruf ist schlecht – viele Gemeinden wollen die «Nomaden» nicht beherbergen. Es fehlt massiv an Standplätzen. Zudem finden die Fahrenden immer weniger Arbeit. Ein Teufelskreis.

Planwagen waren gestern. Heute sind die Fahrenden in der Schweiz mit modernen Wohnwagen unterwegs. Sonst hat sich in den letzten Jahrzehnten aber nicht viel geändert: Noch immer stehen die Fahrenden am Rand der Gesellschaft, noch immer ist ihr Ausbildungsstand tief, noch immer finden sie nur schwer Arbeit. Und noch immer ist es für sie schwierig, einen geeigneten Standplatz zu finden – doch gerade dieser wäre so wichtig.

Platz für 60 Prozent der Fahrenden

Etwa 3000 Menschen sind hierzulande noch als Fahrende unterwegs, sagt Markus Notter, Zürcher alt Regierungsrat und Präsident der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende. «Es bräuchte etwas über 80 Durchgangsplätze, es gibt aber lediglich um die 40.» Durchgangsplätze sind Plätze, an denen die Fahrenden eine gewisse Zeit bleiben, ihr Handwerk anbieten und dann weiterziehen. Deren Zahl ist in den vergangenen Jahren gar zurückgegangen.

Das reicht noch für rund 60 Prozent der rund 3000 fahrenden Schweizer Jenische – zumindest auf dem Papier. In Tat und Wahrheit sei die Platznot oft noch grösser, sagt Urs Glaus, Geschäftsführer der vom Bund 1997 geschaffenen Stiftung. So seien einzelne Durchgangsplätze dauernd von aus Frankreich eingereisten Roma belegt.

Doch auch bei den Standplätzen, auf denen die Fahrenden beispielsweise überwintern, gibt es einen Mangel: «40 bräuchte es, 15 sind es», sagt Markus Notter. Und diese seien teils in einem sehr schlechten Zustand.

Kinder zur Sesshaftigkeit gezwungen

«Jemand muss aktiv etwas machen. Es braucht einen Grundeigentümer, der einverstanden ist. Man muss auch etwas Geld in die Hand nehmen – der Platz braucht Strom, Wasser und Abwasser», präzisiert Notter. Das Image der Fahrenden sei nicht überall gut. Wenn es darum gehe, Land umzuzonen oder einen Kredit zu bewilligen, ginge die Bevölkerung oft in die Opposition.

Audio
Interview mit Markus Notter, Präsident der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende
aus Rendez-vous vom 24.04.2014.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 56 Sekunden.

Auch der Bundesrat räumte 2012 in einem Bericht zur Umsetzung des Europarats-Abkommens ein, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren nicht verbessert habe. Nach wie vor würden die Fahrenden von der Mehrheit häufig nicht als vollwertiger Bestandteil der Schweizer Bevölkerung wahrgenommen und litten unter Vorurteilen.

Gern gesehen waren die Fahrenden in der Geschichte noch nie. Bis in die 1970er-Jahre versuchte das Projekt «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute, die Nachkommen der Fahrenden sesshaft zu machen. Hunderte Kinder wurden in Heimen oder in Pflegefamilien platziert – gegen deren Willen. Jahrzehntelang wehrten sich jenische Eltern erfolglos gegen die Wegnahme ihrer Kinder. Erst eine Pressekampagne bewirkte 1973 das Ende der Aktion.

Doch auch Kinder, die in ihren Familien bleiben, haben oft grosse Probleme. Weil sie eine Schule nur in den Herbst- und Wintermonaten besuchen, hinken sie stark hinter ihren sesshaften Schulkollegen her. Viele Fahrende sind Analphabeten, eine Ausbildung absolvieren die wenigsten. Vielmehr lernen sie das Handwerk ihrer Eltern, was wiederum zu neuen Sorgen führt.

Am Schluss hilft das Sozialamt

Denn die meisten Jenischen haben Mühe, sich und ihre Familie mit dem traditionellen Gewerbe wie dem Hausieren, Messerschleifen oder Korbflechten zu ernähren. Ausweichmöglichkeiten bieten der Schrott- oder Altwarenhandel und die Recyclingbranche. Zugleich ist ihnen der Weg in den Arbeitsmarkt oft versperrt, weil die Kenntnisse in Lesen und Schreiben nicht genügen und die nötigen Diplome fehlen; auch der Umgang mit dem Computer ist vielen fremd.

Der Anteil Sozialhilfeempfänger unter den Jenischen auf den Standplätzen ging zwar zurück, ist aber immer noch hoch: In Buech bei Bern zum Beispiel bezogen in den 1990er-Jahren 80 Prozent Sozialhilfe, 2011 wurde noch rund ein Drittel durch die Sozialhilfe unterstützt.

Die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende will intervenieren: vor allem bei den Standplätzen. Denn «die Ziele haben wir noch nicht erreicht», muss Markus Notter eingestehen. Mit Hilfe eines Aktionsplans, der auch von politischen Akteuren unterstützt wird, sollen die Fahrenden neue Aufenthaltsorte erhalten, an denen sie willkommen sind. Damit es vielleicht bald keine Proteste wie aktuell in Bern mehr braucht.

Jenische, Roma, Sinti



In der Schweiz gehören Fahrende grösstenteils zur Gemeinschaft
der Jenischen. Bei ausländischen Fahrenden handelt es sich in der Regel um Roma
oder Sinti. Sie stammen mehrheitlich aus Frankreich, Deutschland, Italien und
Spanien.

Jenische


Sie sind eine anerkannte kulturelle Minderheit und haben
schon immer in der Schweiz gelebt. Sie sind zumeist katholisch oder evangelisch.
Das Jenische ist eine auf dem Deutschen gründende Sprache mit Lehnwörtern aus
dem Romanes, dem Jiddischen und dem spätmittelalterlichen Rotwelschen. In
Österreich, Deutschland und der Schweiz gibt es rund 100'000 Jenische –
darunter etwa 3000 Fahrende.

Roma


Roma ist ein von der International Roma Union gewählter
Begriff, der zahlreiche Bevölkerungsgruppen mit einer gemeinsamen indischen Herkunft
und Sprache (Romanes) bezeichnet. Gruppen von Roma sind im 10. Jahrhundert aus dem
Nordwesten Indiens nach Europa gezogen. Der Singular von Roma ist Rom. Schätzungen
gehen davon aus, dass in Europa acht bis zehn Millionen Roma leben. Sie bilden
damit die grösste Minderheit in Europa. Entgegen einer weit verbreiteten
Meinung sind die meisten Roma sesshaft.

Sinti


Seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland oder Österreich niedergelassene
Roma-Gruppen werden Sinti (Singular: Sinto) genannt. Die wenigen in der Schweiz
lebenden Sinti sind mit den Jenischen vermischt und heissen in der
Deutschschweiz auch Manische.

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