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«Hauen erlaubt»: Warum hat die Schweiz kein Züchtigungsverbot?
Aus Einfach Politik vom 09.04.2021. Bild: SRF
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Kein Züchtigungsverbot Kinder zu schlagen bleibt gesetzlich erlaubt

«Die Familie kann für ein Kind das Schönste sein, aber auch das Schrecklichste», sagt Isabel. Die gelernte Kindergartenlehrerin arbeitet seit vielen Jahren in ihrem Beruf, heute ist sie Schulleiterin im Kanton Zürich. «Aber es ist an mir, das Schrecklichste für ein Kind zu vermeiden.»

Die 37-jährige wird in ihrem Berufsalltag immer wieder mit Gewalt an Kindern konfrontiert. Nicht mit jener Gewalt, die so schlimm ist, dass ein Kind ins Spital kommt. In Isabels Schulbetrieb geht es auch nicht um Mütter und Väter, denen einmal die Hand ausrutscht. Isabel hat mit Gewalt zu tun, die zwar nicht auf den ersten Blick zu sehen ist, die aber sehr wohl Spuren hinterlässt.

Ein Mann schlägt in einer Zeichnung mit einer Rute auf zwei Knaben ein.
Legende: Die körperliche Züchtigung von Kindern war gesellschaftlich lange akzeptiert, das ist beispielsweise in den Zeichnungen und Gedichten von Wilhelm Busch ersichtlich. Wikimedia

Es geht um Kinder, die immer wieder gezüchtigt werden. Das ist zwar nicht ausdrücklich erlaubt. Es gibt aber kein Gesetz, das jegliche Züchtigung von Kindern unter Strafe stellt. Erst bei schweren Verletzungen können Täter oder Täterin strafrechtlich verfolgt werden. Das fehlende Verbot kommt einer gesetzlichen Erlaubnis gleich, sein Kind zu züchtigen.

Die Familie kann für ein Kind das Schönste sein, aber auch das Schrecklichste.
Autor: IsabelSchulleiterin Kindergartenstufe

Druckstellen am Körper, Verbrennungen oder Veränderungen im Verhalten sind Alarmzeichen für Lehrpersonen, dass mit einem Kind möglicherweise etwas nicht stimmt. Dann wird Isabel hellhörig. Sie beobachtet, fragt nach, macht sich Notizen.

Kinder würden meist sehr beiläufig Hinweise geben, sagt Isabel. Etwa beim Znüni, wenn man zusammensitze oder wenn sie ein Kind an die Hand nehme. Wenn sich ein Kind über eine längere Zeit anders verhält oder mehrmals verdächtige Merkmale am Körper hat muss sie handeln. Denn Spitalpersonal oder Schulen haben eine Meldepflicht.

130'000 Kinder in der Schweiz werden geschlagen

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  • Ein Kind pro Schulklasse erfährt in der Schweiz körperliche Gewalt, jedes vierte Kind ist von seelischer Gewalt betroffen.
  • 60 Prozent der Eltern, die ihr Kind züchtigen, bezeichnen sich als überfordert in der Erziehung.
  • Zehn Prozent der Eltern, die zuschlagen, befürworten die Erziehungsmethode Schlagen. Sie finden, dass Züchtigung zur Erziehung dazu gehöre.
  • Insgesamt muss man in der Schweiz von 130'000 Kindern ausgehen, die geschlagen werden.
  • Gemäss Bundesamt für Statistik deuten Statistiken zu häuslicher Gewalt und Forschungsergebnisse darauf hin, dass ein Migrationshintergrund das statistische Risiko für häusliche Gewalt erhöht. Ausländische Kinder und Jugendliche seien doppelt so oft von häuslicher Gewalt betroffen wie schweizerische Kinder und Jugendliche, so das BfS.

(Quellen: Universität Freiburg, Stiftung Kinderschutz Schweiz, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW, Bundesamt für Statistik)

Lehrpersonen wenden sich meistens an die Schulleitung, die abwägt, ob die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde, die KESB, eingeschaltet wird. Oft genüge aber auch die Unterstützung der Eltern durch Fachpersonen, etwa Sozialpädagogen.

Lehrerinnen und Lehrer würden jedoch nicht gleich beim ersten Anzeichen zur Schulleitung rennen, betont Isabel. «Eltern vertrauen uns, sie geben uns das Wertvollste, das sie haben, ihre Kinder», da sei es angebracht, diesen Eltern auch zu vertrauen und nicht gleich vom Schlimmsten auszugehen. Man wolle die Eltern unterstützen und gemeinsam herausfinden, was zu tun sei. Denn die meisten Eltern wollten ihre Kinder gar nicht schlagen, viele würden darauf beschämt reagieren (siehe auch Box oben).

Aber es geht bei der Züchtigung nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch um seelische Verletzungen. Und die psychische Gewalt sei viel schwieriger aufzuspüren, weil es keine sichtbaren Schäden gebe, sagt Isabel.

Ein Lehrer holt in einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert mit einer Rute aus.
Legende: Züchtigung durch Lehrpersonen ist heute nicht mehr vorstellbar; auch Schläge mit Gegenständen sind gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert. Getty Images

Laut einer Umfrage ist jedes vierte Kind von psychischer Gewalt betroffen. Seelische Gewalt heisse, Kinder mit Worten zu bestrafen, weiss Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Worte seien aber nicht weniger schmerzhaft als körperliche Strafen. Seelische Gewalt heisse permanente Erniedrigung des Kindes: einsperren, drohen oder mit Liebesentzug bestrafen.

Gegner: «Verbot nicht nötig»

In den allermeisten europäischen Ländern ist Züchtigen verboten. In der Schweiz nicht. Das heisst aber nicht, dass hier Gewalt in der Erziehung von Kindern gesellschaftlich von allen akzeptiert ist. Dennoch steht es nicht im Gesetz.

Seit 1978 das Züchtigungsrecht abgeschafft wurde wird immer wieder versucht, ein Verbot in unseren Gesetzen festzuschreiben. Bisher ohne Erfolg. Die Argumente dagegen sind vielfältig. Viele finden, ein Verbot sei nicht nötig, weil man den Kinderschutz ausgebaut habe, zum Beispiel mit der Meldepflicht für Lehrer oder Ärztinnen. Die Obwaldner SVP-Nationalrätin Monika Rüegger verurteilt Gewalt an Kindern aufs Schärfste, aber sie sagt, ein Verbot bringe nichts, es gebe schon genug Gesetze dafür (siehe Box unten), man müsse sie nur anwenden. Rüegger wehrt sich dagegen, dass der Staat den Familien immer mehr reinreden wolle.

Wir haben genug Gesetze, wir müssen sie nur anwenden.
Autor: Monika RüeggerSVP-Nationalrätin

Bei der Stiftung Kinderschutz Schweiz ist Regula Bernhard Hug fest überzeugt, dass ein Gesetz helfen würde, Gewalt an Kindern einzudämmen. Das habe man in vielen Ländern gesehen, etwa in Deutschland, Italien, Österreich und Schweden. In Corona-Zeiten habe die häusliche Gewalt jedoch in vielen Ländern wieder zugenommen.

Parlamentarier und Bundesrat argumentieren, dass weitere Gesetze nicht nötig seien, weil das Strafrecht gravierende Tätlichkeiten gegenüber Kindern bereits verfolgt und bestraft.

Fakt ist: Wer ein Kind ernsthaft verletzt, macht sich strafbar. Wer das «gesellschaftlich akzeptierte Mass» nicht überschreitet, nicht unbedingt (siehe Box oben). Deshalb gibt es eine sogenannte Rechtsunsicherheit in der Schweiz, weil niemand weiss, was die Obergrenze dieses akzeptierten Masses ist.

Vorstoss angenommen

Kürzlich erhielt die Debatte um die Einführung eines Züchtigungsverbots neuen Schub. Die Freiburger Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard Marbach hat einen neuen Anlauf genommen. Ihr Postulat wurde vom Nationalrat in der Wintersession gutgeheissen. Buillard fordert darin, dass der Schutz von Kindern vor Gewalt in der Erziehung im Zivilgesetzbuch verankert wird.

Der Bundesrat muss nun aufzeigen, wie er dem Anliegen der Postulantin am besten entsprechen kann. Wie konkret das sein wird, bleibt offen, oft werden Postulate relativ unverbindlich beantwortet.

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