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Kundgebungen verbieten? «Versammlungen sind ausserordentlich wichtig»

Fast täglich wird derzeit das geltende Versammlungsverbot gebrochen, um eine politische Botschaft zu platzieren. Die Polizei reagiert je nach Kanton und Gemeinde unterschiedlich. Da greift sie ein, dort lässt sie die Demonstrierenden gewähren.

Auch unter dem Notverordnungs-Regime des Bundesrats gebe es kein absolutes Kundgebungsverbot, sagt der Staatsrechtler Markus Schefer. Deshalb sollten seiner Ansicht nach Versammlungen unter klar definierten Bedingungen möglich sein.

Markus Schefer

Professor für Staats- und Verwaltungsrecht

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Markus Schefer ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grundrechte, vergleichendes Staatsrecht, Staatslehre und Verfassungstheorie, Verwaltungsrecht und Behindertengleichstellungsrecht.

SRF News: Wie weit ist die Versammlungsfreiheit in der Schweiz momentan aufgehoben?

Markus Schefer: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gilt auch jetzt – sowohl gemäss der Bundesverfassung als auch gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention. Deshalb müssen sich alle Massnahmen, die jetzt ergriffen werden, an der Versammlungsfreiheit messen lassen.

Darf man also Demonstrationen auch jetzt, während den Corona-Notmassnahmen, durchführen?

Jede Einschränkung der Versammlungsfreiheit muss damit gerechtfertigt werden, dass wichtigere, überwiegende Interessen bestehen, welche den Interessen der Versammlungsfreiheit vorgehen.

Es braucht legitime Gründe, um eine Versammlung zu verbieten.

Gibt es während einer Pandemie legitime Gründe, eine Kundgebung zu bewilligen?

Es ist umgekehrt: Es braucht legitime Gründe, um eine Versammlung zu verbieten. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Klimademo nach fünf Minuten beendet

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Vor dem Berner Zytgloggeturm haben am Freitagmittag zehn Klimaaktivisten demonstriert. Die Polizei war zur Stelle und nahm die Personalien auf. Nach fünf Minuten war die Aktion, die um 11.59 Uhr begann, vorbei. Aktivistin Saskia Rebsamen sagte gegenüber Keystone-SDA, die Aktivisten hielten sich an die Corona-Schutzbestimmungen. Sie hielten zwei Meter Distanz zueinander und trügen Gesichtsmasken. Ein Verbot einer solchen Kundgebung sei aus ihrer Sicht unverhältnismässig.

Die Stadt Zürich wollte eine Kundgebung bewilligen, wurde vom Kanton aber zurückgepfiffen. Die Stadt hatte damit argumentiert, dass die Veranstalter ein Schutzkonzept vorgewiesen hätten. Ist diese Argumentation legitim?

Ja, die Stadt Zürich versucht, dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit Rechnung zu tragen. Der Kanton dagegen stützt sich auf die Erläuterungen des BAG zu den bundesrätlichen Verordnungen. Diese sind meiner Ansicht nach aber viel zu apodiktisch formuliert.

Sind die Vorgaben des Bundesrats zu wenig präzis – müsste er nochmals über die Bücher?

Sie sind tatsächlich etwas missverständlich. Deshalb wäre es wichtig, dass der Bundesrat in der Verordnung präzisiert, was man als zulässig erachtet und was nicht. So könnte er ausdrücklich zu politischen Veranstaltungen Stellung nehmen. Er könnte einen Rahmen formulieren, in dem solche Kundgebungen bewilligt werden könnten.

Es ist nicht zulässig, Versammlungen mit dem Argument zu verbieten, man könne sich ja auf anderem Weg Äusserung verschaffen.

Es ist ein Grundrecht unserer Demokratie, die Meinung öffentlich kundtun zu können. Allerdings könnte das heute ja auch im Internet oder mit dem Aufhängen von Plakaten gemacht werden. Braucht es wirklich Versammlungen?

Versammlungen sind ein ausserordentlich wichtiges Element der schweizerischen Demokratie. Das zeigt sich schon nur in ihrer Häufigkeit. Sie sind niederschwellig für alle Leute zugänglich, relativ kostengünstig und haben eine intensive öffentliche Wirkung. Deshalb ist es nicht zulässig, Versammlungen mit dem Argument zu verbieten, man könne sich ja auf anderem Weg Äusserung verschaffen. Der Schweizer Rechtsstaat ist in der Bevölkerung breit akzeptiert. Das ist nicht selbstverständlich und beruht stark darauf, dass wir es uns gewohnt sind, unsere Rechtsordnung mitgestalten zu können. Diese Mitsprache erfolgt ganz wesentlich im Rahmen von Versammlungen.

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

Echo der Zeit vom 15.5.2020, 18.00 Uhr ; 

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