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Mobbing-Fall Céline «Das Rachebedürfnis der Öffentlichkeit wird nicht immer gestillt»

Der Mobbing-Fall bewegt die SRF-User. Ein Rechtsexperte gibt Auskunft zu den brennendsten Fragen.

Die 13-jährige Céline war per Handy gemobbt worden. 2017 nahm sie sich das Leben. Trotzdem beschimpft die Täterin weiter andere Jugendliche. Doch die Jugendanwaltschaft stellte das Verfahren wegen diesen erneuten Drohungen ein – aufgrund einer juristischen Formalität.

Prof. Dr. Urs Saxer

Titularprofessor, Rechtswissenschaftliche Fakultät Universität Zürich

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Urs Saxer wurde 1957 in Zürich geboren. Im Jahr 2000 wurde Urs Saxer von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich zum Privatdozenten ernannt für die Bereiche Völkerrecht, Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Medienrecht. Im März 2008 wurde er von der erweiterten Universitätsleitung zum Titularprofessor ernannt. Neben seiner Tätigkeit als Dozent ist er Partner des Rechtsanwaltsbüros Steinbrüchel Hüssy in Zürich.

Der Fall wirft viele Fragen auf – auch in unseren Kommentarspalten. Wir haben Rechtsexperte Urs Saxer die brennendsten Fragen unserer User vorgelegt.

«Das rechtsstaatliche Prinzip besagt, dass auch der Staat mit fairen Karten spielen muss, wenn er jemanden anklagt. Die Verfahren unterliegen strengen Regeln, diese muss man einhalten. Das gilt auch zum Schutz der Person, die angeklagt ist und für die die Unschuldsvermutung gilt. Solche formelle Verfahrensfehler kann es in einem Prozess immer wieder geben. Und diese können dann auch gravierende Auswirkungen haben.»

«Erstmal gibt es einen Unterschied zwischen Anzeige und Strafantrag. Bei Drohungen oder Ehrverletzungen stellt man meist einen Strafantrag – und dieser muss innerhalb dreier Monate gestellt werden seit die Person bekannt ist, die einen bedroht. Versäumt man die Frist, kann man den Antrag nicht nachholen. Wenn gegen die andere Person im Video nicht derselbe Antrag gestellt wurde, kann dagegen auch nicht ermittelt werden. Die Personen, die nun aber neu bedroht werden von der Täterin, können natürlich wieder einen Strafantrag stellen.

Anders die Strafanzeige, da gibt es einen Strafanspruch des Staates. Nach der Anzeige entscheidet der Staat, wie er vorgeht. Eine Anzeige kann man immer wieder aufgeben.»

«Zum Zeitpunkt des Delikts war die Täterin 17 Jahre alt, mittlerweile ist sie volljährig. Ist ein Jugendlicher noch minderjährig, verfügen die Eltern über die elterliche Gewalt und die Erziehungsberechtigung. Man könnte rechtsgültig für die Kinder handeln und hat eine Aufsichtspflicht. Bei Minderjährigen kann die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde die Situation der Eltern prüfen, ob also eine Verletzung der Aufsichtspflicht vorliegt. Aber auch minderjährige Jugendliche tragen eine eigenständige Verantwortung für ihr Handeln. Gerade bei Jugendlichen und fast Volljährigen kommen die Regelungen der elterlichen Gewalt an ihre Grenzen.»

«Würde man ihr das Handy wegnehmen, kaufte sie wohl am nächsten Tag ein neues. Ich sehe keine gesetzliche Grundlage für ein allgemeines Handy- oder Computernutzungsverbot. Auch ein Kontaktverbot lässt sich im Zusammenhang mit dem Strafantrag der Drohungen nicht aussprechen.»

«Wir haben durchaus Straftatbestände, die in der Lage sind, ein Mobbing zu erfassen. Im Web bekommt Mobbing aber eine neue Dimension, an die man beim Verfassen der jetzigen Straftatbestände nicht gedacht hat. Durch die neue Cyberdimension kann man sich durchaus fragen, ob die bestehenden Instrumente hierfür die richtigen sind oder ob es zusätzliche braucht, die die neue Ausgangslage erfassen.»

«Eine Strafprozessordnung schützt unter anderem auch die angeschuldigte Person, da sie unschuldig sein könnte. Das Strafrecht aber hat nicht zum Zweck, die verurteilte Person zu schützen, sondern dieser Person gegenüber eine Sanktion auszusprechen. Täterschutz ist in dem Sinne nicht der richtige Begriff, auch wenn er politische Gemüter erregt.

Auf der anderen Seite hat man den Opferschutz und die prozessualen Möglichkeiten der Opfer in den letzten Jahren stark ausgebaut. Diese könnten meiner Ansicht nach noch stärker ausgebaut werden. Man wird aber immer das Problem haben, dass das Rachebedürfnis der Öffentlichkeit oft nicht hinreichend gestillt wird. Ein Prozess ist rechtstaatlich geprägt. Das stimmt nicht immer mit dem Gerechtigkeitssinn der Gesellschaft überein.»

«Theoretisch könnte man Social-Media-Plattformen zur Verantwortung ziehen. Für diese Firmen gilt die Rechtsverordnung genau wie für alle anderen. Praktisch stellt sich aber das Problem der Rechtsdurchsetzung. Die Sitze der Unternehmen liegen nicht in der Schweiz, man kann nicht direkt auf sie zugreifen. Man muss über den Rechtshilfeweg vorgehen, der extrem mühsam ist. Die Rechtsdurchsetzung gegenüber diesen Plattformen ist ein grosses Problem. Es wird schon lange diskutiert, wie man dies verbessern könnte.»

Aus darstellerischen Gründen wurden einige User-Kommentare leicht gekürzt, inhaltlich aber nicht verändert.

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