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Der Bödelimord: Als die Idylle Unterseens zerstört wurde
Aus Zeitblende vom 20.02.2021. Bild: Keystone
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Mord von Unterseen Der Bödelimord – 20 Jahre nach einem verstörenden Verbrechen

Im Winter 2001 erschüttert ein grausamer Mord das Berner Oberland – und die ganze Schweiz. In Unterseen bei Interlaken wird eine Gruppe von Rechtsextremen grössenwahnsinnig. Am Ende ermorden sie einen der ihren. Doch bis ans Licht kommt, was passiert ist, vergehen Wochen.

Der Fall beginnt mit einer alltäglichen Vermisstenmeldung: Am 27. Januar 2001 verlässt der 19-jährige Marcel spätabends die Geburtstagsfeier seiner Freundin. Für ein kurzes Treffen mit Freunden, wie er sagt. Doch er kommt nie mehr zurück.

Hier stimmt etwas nicht.
Autor: Jürg MosimannPolizeisprecher

Der Regionalfahnder der Berner Kantonspolizei wird schnell stutzig, als er den Fall genauer untersucht. Beim Verschwinden des jungen Mannes konnte etwas nicht stimmen. So nahm er schon am Tag darauf Kontakt mit der Abteilung «Leib und Leben» auf. Und tatsächlich: Hinter der Vermisstenmeldung steckt mehr als das plötzliche Abtauchen eines Jugendlichen. Auch für den damaligen Polizeisprecher Jürg Mosimann ist klar: «Hier stimmt etwas nicht.»

27 Tage nach Marcels Verschwinden finden Polizeitaucher den Leichnam im Thunersee, eingewickelt in Kehrichtsäcke, beschwert mit einem Gewicht. Was war passiert?

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Ein Mord erschüttert Unterseen
Aus SRF News vom 22.02.2021.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 51 Sekunden.

«Der Orden der arischen Ritter»

Die Region Interlaken ist geprägt vom Tourismus. Fremde sind hier jeden Tag zugegen. Aber im Zuge des Balkankrieges kommen neue, andere Fremde. Sie bleiben. Auch auf dem Bödeli. Das führt zu Spannungen und Streitereien unter den Jugendlichen.

Ein paar junge Männer wollen das nicht hinnehmen. Sie haben genug von den Reibereien und wollen sich wehren. Zunächst sind es nur zwei der späteren Täter – sie gründen 1999 den «Orden der arischen Ritter», eine rechtsextreme Gruppe. Zwei Jahre später sind sie zu fünft – auch Marcel ist dabei. Der Orden setzt sich zum Ziel, die anderen Jugendlichen vor den vermeintlich gefährlichen Ausländern zu schützen.

Niemand weiss, was in den Köpfen der fünf Jugendlichen vorgeht – welche Art von Gruppe sich hier formiert. Auch die Polizei nicht: «Welche Strukturen das hatte, das wusste man zu diesem Zeitpunkt nicht», sagt Mosimann heute.

Zu sehen ein Schulhaus in Unterseen.
Legende: Das Schulhaus Steindler in Unterseen. Hierhin wurde das Opfer in der Mordnacht gelockt und danach zur Ruine gefahren. Keystone

Die fünf Einheimischen nennen sich «Orden der arischen Ritter». Sie haben rechtsextremes Gedankengut, wollen ein Imperium aufbauen, wie der Anführer später sagt. Sich europaweit mit anderen rechtsextremen Organisationen vernetzen. Eine Welt mit wenigen Gesetzen, vielen Freiheiten, ohne Ausländer. Sie planen Morde. Begehen Einbrüche und handeln mit Drogen, um ihre fanatischen Träume zu finanzieren. Beschaffen sich Material bei der rechtsextremen Organisation «Blood and Honour».

Marcel macht kein Geheimnis daraus, dass er Teil der Gruppe ist. Doch damit bricht er das oberste Gebot: Stillschweigen. Und das wird bestraft.

Der Tatort: Die Ruine Weissenau

Die Gruppe beschliesst, Marcel zu ermorden. Unter dem Vorwand, man wolle einen Waffenhändler treffen, verabredet sich der Anführer mit Marcel beim Steindler-Schulhaus in Unterseen – um von dort zur Ruine Weissenau zu fahren. Idyllisch gelegen in einem Naherholungsgebiet. Dort wird Marcel mit einer Waffe bedroht, gefesselt, der Mund zugeklebt. Das Ziel: Mit einem gezielten Schlag mit einer Eisenstange soll er sterben. Doch der Plan geht zunächst nicht auf. Schliesslich prügelt der Haupttäter bis zu 30 Mal auf ihn ein – doch er lebt noch immer. In Kehrichtsäcke eingewickelt, wird er in den Kofferraum eines Autos gezerrt, wo er während der Fahrt stirbt. Er erstickt am eigenen Blut. Dann wird er bei den Beatushöhlen mit einem Gewicht beschwert über die 80 Meter hohe Felswand geworfen.

Die Ruine Weissenau am Thunersee.
Legende: Der Tatort: Die Ruine Weissenau. Das Opfer wurde mit einem Metallrohr brutal traktiert und stirbt wenig später. Keystone

Später fährt die Gruppe zurück nach Weissenau, um die Spuren zu beseitigen. Steine werden gewaschen, Kleider verbrannt, die Eisenstange in den Schiffskanal geworfen. Danach geht die Gruppe zum vierten «Ritter», der zu Hause geblieben war, aber die Tat mitgeplant hatte. Dort stossen die vier mit einem Glas Wein auf die vollbrachte Tat an.

Die Polizei macht 100 Befragungen

Nach dem Verschwinden Marcels am 27. Januar ermittelt die Polizei in alle Richtungen und fährt ihren Apparat hoch. Der Polizei fällt auf, dass sein Velo seit Tagen unbenutzt bei einem Schulhaus in Unterseen steht. Hilfreich sind auch zwei Spaziergänger, die das Bahnabonnement von Marcel bei der Ruine Weissenau finden. Somit weiss die Polizei, wo sie mit der Suche beginnen kann: «Man hat Gebirgsspezialisten beigezogen und einen Suchperimeter abgesteckt. Dann zog man den Kreis weiter wie eine Schnecke», sagt Polizeisprecher Mosimann. Auch die Angehörigen geben nicht auf. Sie schalten Vermisstenanzeigen, bitten ihn in den Medien um ein Lebenszeichen.

Ein ortsansässiger Polizist ist es schliesslich, der darauf hinweist, man könnte mal an einer exponierten Stelle im Thunersee nachsehen – bei den Beatushöhlen sei der See besonders tief. Und prompt: Gebirgsspezialisten finden einen Turnschuh des Vermissten an der steilen Felswand.

Zu sehen der Thunersee.
Legende: Das Opfer sollte für immer im Thunersee verschwinden. Doch Taucher haben den Leichnam Wochen nach der Tat entdeckt. Keystone

Als die Polizei am 22. Februar die Leiche im Thunersee findet, ist entsprechend schnell klar, nach wem sie Ausschau halten muss. Prompt beobachtet sie zwei der Täter, wie sie Eisenelemente im Thunersee entsorgen wollen – und schnappt zu. Ein weiterer Täter wird am Flughafen Zürich verhaftet, der vierte am Bahnhof Interlaken-West.

Schock für Unterseen

Für Unterseen sei das ein Schock gewesen, sagt der damalige Pfarrer Theo Ritz heute, es sei eine «Überforderung» gewesen. Denn erwartet habe so etwas niemand. Die Jugendlichen auf dem Bödeli verlieren das Vertrauen zueinander. «Da musste man etwas machen», sagt Ritz heute. Anfang April, zwei Monate nach der Tat, organisieren die Jugendarbeit, die Kirche und die Gemeinde einen Glockenmarsch durch Unterseen. «Wir wollten einen anderen Ton erzeugen», sagt Ritz. Und eine der Organisatorinnen meint damals, das sei kein Gedenkmarsch für das Opfer, sondern ein Marsch gegen Gewalt.

Video
Der Friedensmarsch nach der Tat (Tagesschau, 2001)
Aus News-Clip vom 22.02.2021.
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Gerichtsprozess und Verarbeitung

Im November des ersten Jahres wird der bei der Tat noch minderjährige Täter verurteilt. Zweieinhalb Jahre später kommt es zum grossen Prozess gegen die drei anderen Täter. Mit dabei ist Christine Brand, damals Gerichtsreporterin beim «Bund»: «In dem Gericht waren viele Menschen, viele Journalisten und viele Angehörige der drei Täter.»

Als der Richter den Täter bat vorzulesen, tat er das emotionslos, wie bei einer Bedienungsanleitung.
Autor: Christine BrandGerichtsreporterin

Der Reporterin bleibt der Eindruck des Haupttäters: «Als der Richter den Haupttäter bat, den Bericht des Gerichtsmediziners vorzulesen, tat er das emotionslos, wie wenn er eine Bedienungsanleitung gelesen hätte.» Dabei sei es um seine Tat gegangen.

Die drei Täter werden vom Kreisgericht Interlaken-Oberhasli schliesslich verurteilt: Der Haupttäter zu lebenslänglich, die beiden Mittäter zu 16 Jahren Zuchthaus. Damit findet Unterseen einen Abschluss. Auch Pfarrer Theo Ritz. Doch der Geistliche merkt: Etwas bleibt, in Unterseen: Die Ruine Weissenau ist nicht mehr der schöne Ort, der er einmal war. Die Menschen meiden den ehemaligen Tatort: «Man ging da nicht mehr hin.» Also entschliesst er sich mit anderen, die Ruine wiederzubeleben.

Die Musikgesellschaft spielt auf, «um einen anderen Ton zu geben dort». Regenbogenfarbige Tücher hängen von der Ruine. Und es gibt etwas zu essen und zu trinken: «Das war wichtig, weil es etwas ist, das ins Leben reinführt. Man muss essen und trinken, sonst stirbt man», sagt Ritz heute.

In Unterseen wurde ein guter Umgang mit der Tat gefunden.
Autor: Christine BrandGerichtsreporterin

Unterseen hat, so scheint es, den Schock überwunden. Ein Indiz: Viele der betroffenen Familien leben noch immer dort. Für die damalige «Bund»-Journalistin Christine Brand steht damit fest: «In Unterseen wurde ein guter Umgang mit der Tat gefunden.»

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Radio SRF 4 News vom 20.02.2021, 10 Uhr

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