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Realität bei Sexualstraftaten Wenige Anzeigen und kaum Verurteilungen

Unter dem Hashtag #MeToo werden Erfahrungen mit sexueller Gewalt ausgetauscht. Es werden aber nur wenige Täter verurteilt.

Sexuelle Gewalt hat viele Gesichter: ein anzüglicher Spruch, ein aufgezwungener Kuss, ein Po-Grapscher bis hin zur Vergewaltigung. Strafbar ist grundsätzlich jede dieser Handlungen, «sofern ein klarer sexueller Bezug besteht und die betroffene Person das nicht will», erklärt Rechtsanwältin Elena Lanfranconi. Sie vertritt oft Opfer von sexueller Gewalt. Befragungen zeigen jedoch: In der Schweiz erstatten weniger als 20 Prozent der Opfer sexueller Gewalt Anzeige.

Auch Elena Lanfranconi gibt zu, dass sie hin und wieder Klientinnen von einer Anzeige abrät: «Vor allem dann, wenn ich merke, dass ein Sexualdelikt zu einer starken Traumatisierung geführt hat und die Konfrontation mit diesem Delikt im Strafverfahren zu einer erneuten Traumatisierung führen würde.» In einem Gerichtsverfahren muss sich das Opfer nämlich mehrfachen stundenlangen und detaillierten Befragungen stellen.

Entscheidend ist die erste Einvernahme

Nicht nur, dass Sexualdelikte selten angezeigt werden – es kommt auch sehr selten zu einer Verurteilung. Letztes Jahr wurden in der Schweiz 495 Personen wegen Vergewaltigung angezeigt. Nur 97 wurden verurteilt. Dabei ist zu beachten, dass sich die Verurteilungen nicht zwingend auf Anzeigen aus demselben Jahr beziehen.

Ob ein Täter verurteilt wird, hängt von zwei Punkten ab, erklärt Patrick Guidon, Vizepräsident der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter: «Erstens müssen die Behörden Kenntnis davon haben, dass etwas passiert ist. Und zweitens müssen die Beweise für eine Verurteilung ausreichend sein.»

Dass die Beweislage ausreichend ist, dafür will Kathrin Wandeler von der Kantonspolizei Solothurn sorgen. Rund ein- bis zweimal pro Woche rückt sie wegen einer schweren Sexualstraftat aus. Für sie ist klar: «Die allererste Einvernahme des Opfers bei der Polizei ist sehr, sehr wichtig.»

Die ersten Aussagen unmittelbar nach der Tat seien am wenigsten verfälscht, «von Leuten, mit denen man nachträglich darüber geredet hat oder von Erklärungen, die man sich selbst plötzlich macht.»

Aussage gegen Aussage

Auch für Richter Patrick Guidon sind Erstaussagen entscheidend und eine sorgfältige Dokumentation wichtig. «Hier leisten die Staatsanwaltschaften und die Polizei sehr gute Arbeit», lobt er.

Leider würden jedoch viele Opfer selbst wichtige Spuren vernichten, sagt Rechtsanwältin Elena Lanfranconi: «Viele Frauen gehen nach einem erlebten Sexualdelikt duschen, weil sie sich schmutzig fühlen und waschen die Kleider.» Ein Problem, dem Kathrin Wandeler bei ihren Einsätzen entgegenzuwirken versucht: «Ich nehme bereits unterwegs mit dem Opfer Kontakt auf und gebe erste Hinweise zum Thema Spurenschutz.»

Die meisten Sexualdelikte sind sogenannte Vier-Augen-Delikte, nur Opfer und Täter wissen, was wirklich passiert ist. Aussage gegen Aussage und eine schlechte Beweislage – wie entscheiden die Richter da? «Es ist wichtig, dass man die Aussagen ganz genau analysiert», sagt Patrick Guidon. Ein Täterschutz unter dem Motto «Im Zweifel für den Angeklagten» sieht er aber nicht: «Es geht hier nicht darum, ob irgendwelche Zweifel vorliegen – das Gesetz sagt ausdrücklich, dass nur ‹unüberwindliche› Zweifel massgebend sind».

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