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Renten für Suchtkranke «Vielleicht steht bei der IV künftig der Mensch mehr im Zentrum»

Eine Sucht kann eine Krankheit sein und im Einzelfall muss eine IV-Rente geprüft werden. Das hat das Bundesgericht BGer in Luzern entschieden. Für Suchtspezialist Manuel Herrmann könnte der Entscheid einen Paradigmenwechsel bewirken.

Manuel Herrmann

Stv. Generalsekretär Fachverband Sucht

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Herrmann und sein Verband vertreten die Interessen der Suchtfachorganisationen gegenüber Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. Themendossiers sind zum Beispiel die Alkoholpolitik, das Geldspielgesetz oder die Tabakpolitik.

SRF News: Was halten Sie vom Entscheid?

Manuel Herrmann: Das Urteil kann sehr grosse und positive Auswirkungen haben. Es ist überfällig und lediglich eine Anpassung an die medizinische, therapeutische und auch politische Realität im Bereich Sucht.

Was heisst das konkret?

Medizinisch-therapeutisch ist es fast unmöglich zu definieren, ob eine Person in erster Linie ein Suchtproblem hat, oder ob eine andere Problematik im Vordergrund steht. Politisch ist seit den 1990er-Jahren das Paradigma der Abstinenz überholt. Mit der Heroin-Krise hat man die Politik in der Schweiz stark angepasst.

Wird ein Alkoholkranker durch dieses Urteil automatisch zum Fall für die Invalidenversicherung IV?

Das kommt darauf an, wie das Bundesgericht das strukturierte Beweisverfahren umsetzt. Es ist wichtig, dass Personen, die einen Substanzkonsum aufweisen, nicht direkt von der IV abgewiesen werden.

Wenn der Mensch im Zentrum steht und früher abgeholt wird, ist das sehr positiv.

Zuerst soll ihre Arbeitsfähigkeit und ihr Arbeitswille geprüft werden, bevor entschieden wird, wer zahlt. Es ist ein Schritt weg von diesem ‹Kässelidenken›. Vielleicht steht der Mensch in Zukunft etwas mehr im Zentrum.

Sie haben von der IV und von einem ‹Kässelidenken› gesprochen. Aber gerade die IV ist ziemlich restriktiv, wenn es um IV-Renten geht..

Die IV konnte sich stets darauf berufen, dass sie für Personen mit Substanzkonsum nicht zuständig ist. Sie muss sich nun neu erfinden und sortieren. Wenn der Mensch im Zentrum steht und früher abgeholt wird, ist das sehr positiv. Ein suchtkranker Mensch, der arbeiten will, kann das auch tun und muss nicht zuerst sein Geld ausgeben und in die Sozialhilfe reinrutschen, bevor ihm geholfen wird.

Haben Sie Schätzungen, wie viele Menschen durch dieses Urteil betroffen sein könnten?

Nein. Das wäre reine Spekulation.

Das Gespräch führte Simon Leu.

IV hat Urteil so erwartet

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Corinne Zbären, die beim Bundesamt für Sozialversicherungen für die Koordination der IV-Stellen zuständig ist, geht davon aus, dass sich durch das Urteil für die IV-Stellen nicht viel ändere. Man erwarte auch keinen erheblichen Anstieg der IV-Fälle. «Es ist ein Urteil des Bundesgerichts, das man erwartet hat. Denn bereits früher hat das Bundesgericht im Fall von Depressiven und Schmerzpatienten ähnliche Urteile gefällt.»

Dadurch, dass auch Sucht als Krankheit gilt, erübrige sich das Streiten um die Frage, ob ein Gebrechen – etwa eine psychische Krankheit, oder eine körperliche Erkrankung – Folge oder Ursache der Sucht sei. Bisher war es so, dass keine IV bezahlt wurde, wenn die Sucht als Ursache einer Erkrankung ausgemacht wurde. Diese Unterscheidung fällt nun dahin. Das Bundesgericht nehme damit die medizinische Erkenntnis auf, dass Sucht eine Krankheit ist, und dass ihre Ursachen bzw. Folgen eng verquickt sind.

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