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Rückwirkung im Rechtsstaat Gesetze für die Vergangenheit – geht das?

Gleich zwei Gesetze liegen im Ständerat, die rückwirkend gelten sollen. Der Bundesrat warnt, ein Experte hält dagegen.

Die Zeit zurückdrehen, in die Vergangenheit reisen und manches anders machen. Was Menschen aus Fleisch und Blut verwehrt ist, das möchte der Nationalrat bei zwei Gesetzesvorlagen tun, bei denen es um Steuern geht. Diese Woche befasst sich der Ständerat mit den beiden Geschäften.

Wer versehentlich vergessen hat, seine Erträge in der Steuererklärung zu deklarieren, der soll die Verrechnungssteuer trotzdem noch zurückfordern dürfen. Das sieht eine der beiden Vorlagen vor. Das Besondere dabei: Der Nationalrat möchte, dass die Gesetzesänderung rückwirkend bereits ab 1. Januar 2014 gilt.

Grosse Bedenken von Bundesrat und Kommission

So gehe das nicht, hatte Finanzminister Ueli Maurer im Sommer den Nationalrat gemahnt. Denn eine solche Rückwirkung verstosse gegen die Bundesverfassung. Es sei grundsätzlich gefährlich, Gesetze rückwirkend in Kraft zu setzen: «Das beinhaltet auch eine gewisse Willkür, und das schadet der Rechtsstaatlichkeit und der Glaubwürdigkeit.».

Pirmin Bischof.
Legende: Kommissionspräsident Pirmin Bischof äussert grosse rechtsstaatliche Bedenken. Keystone

Die Kommission des Ständerates hat denn heute auch knapp beantragt, dem Bundesrat zu folgen und die Rückwirkung abzulehnen. Eine solche sei rechtsstaatlich bedenklich, argumentiert Kommissionspräsident Pirmin Bischof (CVP): «Das könnte im Extremfall heissen, dass auch alte, rechtskräftige Entscheide aufgehoben werden könnten.»

Plädoyer für die «begünstigende Rückwirkung»

So allgemein könne man das nicht formulieren, kontert der ehemalige Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, Georg Müller. Er hatte für die Kommission des Nationalrates ein Gutachten zur Frage der Rückwirkung erstellt. Entscheidend sei, ob Betroffene von einer Rückwirkung profitieren würden oder nicht:

«Ich bin der Meinung, dass eine begünstigende Rückwirkung – und um eine solche handelt es sich im vorliegenden Fall – zulässig ist. Im Gegensatz zu einer belastenden Rückwirkung, die in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreift.»

Verfassungskonform auch bei der Billag-Gebühr

Die Anpassung des Verrechnungssteuergesetzes sei zum Vorteil der Besteuerten, und deshalb sei die Rückwirkung gestattet. Das gelte auch für die geforderte Rückerstattung der Mehrwertsteuer auf der Billag-Gebühr für Radio und Fernsehen, die vom Ständerat dann am Mittwoch behandelt wird.

Auch hier hat sich der Nationalrat für die Rückwirkung ausgesprochen. Auch dies sei verfassungskonform, findet Müller auch hier im Gegensatz zum Bundesrat, der einen Verstoss gegen das Gebot der Rechtssicherheit in der Bundesverfassung erkennt.

Georg Müller: Zurückhaltung angesagt

Auf jeden Fall sollte man mit der Rückwirkung von Gesetzesvorlagen zurückhaltend sein, findet aber auch Experte Müller. Ganz speziell bei solchen, die zum Nachteil der Betroffenen ausfallen. Für diese hat auch das Bundesgericht die Hürden sehr hoch angesetzt.

Selbst bei Rückwirkungen, welche Betroffene begünstigten, sollte man nicht überschiessen, gibt Müller zu bedenken: «Das ist ein schwerer Eingriff, wenn plötzlich neues Recht auf Sachverhalte Anwendung findet, die bereits abgeschlossen sind. Bei der begünstigenden Rückwirkung muss man weniger streng sein, aber auch hier sollte das nicht zur Regel werden.»

Im Fall der Verrechnungssteuer hat sich der Ständerat denn auch für einen Kompromiss ausgesprochen, der die Rückwirkung deutlich eingrenzt. Ob der Nationalrat diesen akzeptiert, wird sich in der Wintersession zeigen.

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