Werden Sans-Papiers ausgebeutet, können sie sich in den meisten Kantonen nicht vor dem Arbeitsgericht dagegen wehren. Denn reichen sie eine Klage ein, müssen sie damit rechnen, dass ihr Fall den Migrationsbehörde gemeldet wird. Dann gibt es keine Gerechtigkeit gegenüber einem Arbeitgeber, sondern es droht die Ausschaffung.
Anders in Genf: Dort hätten Sans-Papiers nichts zu befürchten, sagt Thierry Horner, Sekretär der Genfer Gewerkschaft SIT. Allein seine Gewerkschaft vertrete mehrere Dutzend Fälle pro Jahr vor Gericht.
Dass es wichtig sei, seine Rechte geltend machen zu können, zeige auch die Pandemie, sagt Gewerkschafter Horner. Komme eine Pandemie, würden Arbeitgeber die Leute einfach nicht weiter beschäftigen. Sans-Papiers könnten dann keinerlei Ansprüche geltend machen. Aber sie könnten in Genf vor das Arbeitsgericht ziehen.
Aufenthaltsstatus nicht geklärt
Das Genfer Arbeitsgericht geht bei einer Verhandlung einfach der Frage nach der Aufenthaltsbewilligung nicht nach. So gibt es den Migrationsbehörde auch nichts zu melden.
In Genf gibt es gemäss Schätzungen 13’000 Sans-Papiers, 27 auf 1000 Einwohner, der höchste Anteil in der Schweiz. Und es gibt eine besondere Aufmerksamkeit für das Thema. In den letzten Jahren wurden in einem Schweizer Pilotprojekt namens Papyrus fast 2400 Sans-Papiers regularisiert, ein einmaliger Vorgang in der Schweiz. Die Genfer Arbeitgeber standen hinter Papyrus und tragen auch den Zugang zum Arbeitsgericht mit.
Für sie steht der Kampf gegen unlauteren Wettbewerb und Schwarzarbeit im Zentrum und nicht die Ausschaffung von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung.
Nicolas Rufener, Generalsekretär des Dachverbandes der Genfer Bauwirtschaft, erklärte das anhand eines Beispiels: «Wenn Sie zu schnell am Steuer erwischt werden, dann werden Ihre Daten nicht an die Steuerverwaltung weitergeleitet, um zu kontrollieren, ob Sie ihre Steuern bezahlt haben. Wenn Sie gegen Ihren Arbeitgeber vorgehen, dann muss man auch nicht der Polizei melden, dass Sie eventuell keine Aufenthaltsbewilligung haben.»
Die Genfer Ausnahme gilt nur für arbeitsrechtliche Verfahren. Wer vor die Strafjustiz kommt, wird den Migrationsbehörde gemeldet. Aber auch der Zugang zum Arbeitsgericht ist eine Ausnahme in der Schweiz. In Zentren wie Basel oder Zürich, in denen es auch viele Sans-Papiers gibt, riskiert man eine Ausschaffung, wenn man vor Gericht geht.
Das ist der Schweizer Plattform für Sans-Papiers ein Dorn im Auge. Co-Präsidentin und SP-Nationalrätin Mattea Meyer sagt: «Gerade für Sans-Papiers, die oft in sehr prekären Arbeitsbedingungen arbeiten, ist es wichtig, dass sie ihre Rechte wahrnehmen können.»
«Pragmatisch, aber problematisch»
Fabio Regazzi ist Präsident des Schweizerischen Gewerbeverband und CVP-Nationalrat aus dem Kanton Tessin. Für ihn ist die Genfer Lösung «ein Ausweg, aber das löst die Grundsatzfrage nicht. Diesen Konflikt sollte man ein für alle Mal lösen.» Was Genf mache, sei pragmatisch, aber staatspolitisch problematisch, so Regazzi.
Im Bericht des Bundesrates gibt es zur Genfer Praxis keine Stellungnahme. Der Bund hält aber allgemein fest, dass es einen Spielraum bei der Bekanntgabe der Personalien in einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht gibt. Trotzdem dürfte der Kanton Genf eine Ausnahme bleiben. In anderen Kantonen wird niemand eine Anzeige einreichen, wenn er die Ausschaffung riskiert.