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Gas geben in Kosovo
Aus 10 vor 10 vom 15.08.2017.
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Schweiz-Kosovaren «Shatzis», schnelle Schlitten und andere Sommernachtsträume

Verkehrsrowdys mit Schweizer Nummern sorgen für Schlagzeilen in Kosovo. Andere Schweiz-Kosovaren kämpfen gegen Vorurteile hier und dort.

Dreissig Tage Untersuchungshaft nach einem Unfall mit überhöhter Geschwindigkeit: Ein sechzehnjähriger Schweizer sitzt zurzeit im kosovarischen Jugendknast von Lipian. Bei einer Strolchenfahrt während der Sommerferien im Westen Kosovos erfasste er mit dem Auto seines Vaters eine 55-jährige Frau und ihre 12-jährige Enkelin. Die beiden Opfer starben auf der Unfallstelle.

Die kosovarische Polizei hat seinen Pass eingezogen und das Fahrzeug konfisziert. Das jähe Ende einer übermütigen Sommerflause – und in Kosovo Gesprächsstoff über die Verkehrsrowdys aus der Schweiz.

«Albanischer als albanisch»

Zu Zehntausenden strömen die Schweiz-Kosovaren während der Ferien in die Heimat ihrer Eltern und Grosseltern. Die Einheimischen nennen sie augenzwinkernd «Shatzis» – von deutsch: Schatz, Liebling.

Die teuren Autos mit Schweizer Nummern auf den kosovarischen Strassen sorgen für sarkastische Sprüche in den sozialen Medien. Doch der jüngste Staat Europas lebt von seiner Diaspora (siehe Box unten): Ein Grossteil der Familien ist auf Zuwendungen ihrer Verwandten im Ausland angewiesen. Auch die familiären Banden zwischen hier und dort bleiben eng geknüpft. So sind die Sommerferien die Zeit des Wiedersehens, des Heiratens und der lauten Sommernachtsträume.

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Ermal Nevzati wehrt sich gegen Vorurteile
Aus News-Clip vom 15.08.2017.
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Ermal Nevzati, Kosovo-Albaner aus Bern, kurvt mit seinem BMW auf dem Auto-Korso von Prishtina: «Wir kommen nicht unbedingt hierher, um uns zu erholen», erzählt er im Nachrichtenmagazin «10vor10» in breitem Berndeutsch. Er verbringe viel Zeit mit der Familie: «Hier sind meine Leute, meine Kultur, meine Tradition.»

Aber die Zeit in Kosovo sei nicht vergleichbar mit Strandferien oder einer Städtereise. Aus den Strassencafés dröhnt laute Musik. Mitten drin: Granit Molliqai und Festa Camaj aus Genf. Er Neurochirurg am Unispital, sie Philosophie- und Französischlehrerin. Viele Schweiz-Kosovaren stünden unter unheimlichem Druck, allen Ansprüchen zu genügen. In der Schweizer Gesellschaft, aber auch zu Hause in Kosovo: «So verhalten sich viele ‹Shatzis› albanischer als albanisch – oder so, wie sie glauben, dass sich ein richtiger Albaner verhält.»

«Wir gehören auch hierher»

Doch Protzen und Rasen mit schnellen Schlitten hat mit der albanischen Tradition nichts zu tun – und schon gar nicht mit dem urbanen Lifestyle Prishtinas. Dem Genfer Pärchen sind die Auto-Exzesse ihrer Landsleute peinlich: «Dieses Verhalten ist schockierend», hält Philosophielehrerin Camaj in «10vor10» fest – und ihr Partner, Neurochirurg Molliqai doppelt nach: «Diese Leute verhalten sich hier in Kosovo gleich wie in der Schweiz. Sie verhelfen uns an beiden Orten zu einem schlechten Image.»

Im Hintergrund grölt eine Gruppe «Hopp Schwiiz». An diesem Abend treffen in Prishtina zwei unterschiedliche Lebenswelten aufeinander. Ein Stück Schweizer Alltag in Kosovo.

«Wir gehören auch hierher»

Draussen dreht Sanitärinstallateur Nevzati eine nächste Runde auf dem Auto-Korso. Vorsichtig, wie er sagt. Natürlich wagten manche «Shatzis» auf den kosovarischen Strassen mehr als in der Schweiz, aber lang nicht alle: «Wir denken, bei diesen tiefen Bussen von 20, 40, 60 Euro können wir es uns leisten, etwas schneller zu fahren.»

Es gehe vielleicht auch darum zu zeigen, was man im Ausland erreicht haben, sinniert die studierte Philosophin Festa Camaj: «Für die Leute hier sind wir immer diejenigen, die ihre Heimat verlassen haben. Unser Leben mag finanziell unbeschwerter sein, wir haben die besseren Chancen in der Schweiz. Aber wir gehören auch hierher. Deshalb haben wir auch das Bedürfnis zu zeigen, was wir erreicht haben, um unserem Leben in der Fremde einen Sinn zu geben.»

Doppelte Verpflichtung

Dies kippe halt oft in Angeberei – und führe zu den Vorurteilen der Einheimischen gegenüber der Diaspora, fügt Camaj an: «Dies ist nicht immer ganz fair, weil wir ja nicht alle gleich sind.» Er sei sicher nicht hier, um mit seinem Auto zu protzen, sagt Ermal Nevzati. Doch die Vorurteile seien schmerzhaft. In Kosovo genauso wie in der Schweiz: «Klar fahren wir manchmal schneller. Aber man kann nicht alle in den gleichen Topf werfen. Es gibt auch Schweizer, die rasen oder gewalttätig sind.» In der Zeitung stehe dann, ein Kranker oder ein Gestörter habe die Tat begangen.

Ermal Nevzati entschwindet mit seinem BMW in die Nacht. Auf ihn und die anderen «Shatzis» wartet eine lange Rückreise den Balkan hoch – inklusive stundenlanger Wartezeiten und Schikanen an den Grenzen. Zu Hause in der Schweiz warten Arbeit und finanzielle Verpflichtungen: Für die hohen Lebenskosten und die Überweisungen an die Verwandten in Kosovo. Ein Leben zwischen hier und dort.

Der Prozess gegen den minderjährigen, mutmasslichen Raser mit Schweizer Pass soll übrigens in Kosovo stattfinden.

Die kosovarische Diaspora

In der Schweiz leben rund 170'000 Kosovaren – die meisten von ihnen Albaner. Das sind fast 10% der Bevölkerung Kosovos. Zusammen mit den Albanern mit Schweizer Pass oder anderen Balkanstaaten (Albanien, Serbien, Mazedonien, Montenegro) dürften weit mehr Menschen albanischer Muttersprache sein.

Die ersten Kosovaren kamen vor 50 Jahren als Gastarbeiter in die Schweiz, nachdem der Bundesrat mit Jugoslawien ein Saisonnier-Abkommen abgeschlossen hatte. Tito exportierte Arbeitskräfte aus dem wirtschaftlich schwachen Süden des Landes (darunter viele Albaner), die Schweizer Bauunternehmer brauchten Nachfolger für die Saisonniers aus Italien.

In den 1990er-Jahren flüchteten viele Wehrpflichtige aus Kosovo in die Schweiz, weil sie nicht auf der Seite des serbisch dominierten Restjugoslawiens in den Krieg wollten. Während des Krieges 1998/99 war die Schweiz schliesslich ein sicherer Hafen für Flüchtlinge.

Die meisten Nachkommen der Saisonniers und Flüchtlinge sind heute Schweizer, leisten Militärdienst oder engagieren sich politisch.
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