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Überprüfung der Renten Härtere Gangart bei der IV macht noch kränker

Die Invalidenversicherung in der Schweiz war hoch verschuldet. Heute ist sie saniert, vor allem weil tausenden Personen die IV-Rente gestrichen oder gekürzt wurde. Eine Nachforschung zeigt: Sie leben heute in prekären Verhältnissen.

Frau H. ist heute 60 Jahre alt. Während elf Jahren hatte sie eine IV-Rente bezogen. 2015 aber zog die IV den Stecker – mit der Begründung sie sei psychisch belastbar und könne arbeiten.

In den letzten fünf Jahren wurde Frau H. achtmal operiert. Arbeit zu finden, sei unmöglich. Seit dem Verlust der Rente gehe es ihr gesundheitlich noch schlechter, erzählt die Frau: «Es ist deprimierend. Vom Geld des Sozialamts kannst du nicht leben.»

Rund 2000 Franken erhält sie monatlich vom Sozialamt. Keine Ergänzungsleistungen mehr, keine IV-Rente aus der Pensionskasse. Denn Pensionskassen zahlen nur dann IV-Renten aus, wenn es auch die staatliche IV tut.

Wunschdenken statt Wissen

Frau H. ist eine von knapp 20'000 Menschen, denen seit 2011 die IV-Rente gestrichen wurde. Dazu kommen 5000 Menschen, denen die IV-Rente massiv gekürzt wurde. Und jedes Jahr kommen neue Personen dazu. Fast 500 Millionen Franken hat die IV mit der Neubeurteilung von Renten bis jetzt gespart.

Renten überprüft die IV seit rund zehn Jahren. Sie stoppt oder kürzt dort, wo man glaubt, dass eine Person trotz Einschränkungen arbeitsfähig ist. Doch oft ist das Wunschdenken, wie der Fall eines gelernten Maschinenmechanikers zeigt. Wegen eines Arbeitsunfalls wurde er 2001 arbeitsunfähig.

Ich habe mehr als 300 Bewerbungen geschrieben, wurde aber zu keinem einzigen Gespräch eingeladen.
Autor: Maschinenmechaniker (anonym)

In einer Mail schreibt er: «2001 erhielt ich eine volle IV-Rente. Doch 2007 wurde sie mir auf 50 Prozent gekürzt. Ich sei teilweise arbeitsfähig, sagte die IV. Seither habe ich mehr als 300 Bewerbungen geschrieben, wurde aber zu keinem einzigen Gespräch eingeladen. Auf dem Arbeitsamt sagte man mir, man könne mir nicht helfen.» Der 51-Jährige lebt heute von 1600 Franken im Monat. Auch mit seiner Gesundheit ging es rapide bergab.

Frau läuft auf einer Wendeltreppe
Legende: Teufelskreis: Die Krankheit wird schlimmer, die Krankenkassen werden stärker belastet, die Sozialhilfe muss einspringen. Symbolbild/Keystone

Von der härteren Gangart der IV ist auch betroffen, wer sich neu anmeldet. Nur jeder fünfte Antragssteller kriegt heute noch eine Rente zugesprochen. Abgelehnt wurde auch Caterina Stierli. Deprimierend sei es, sagt die 62-Jährige: «Nachdem man immer bezahlt hat, ist man auch enttäuscht von der IV. Man ist bereits gesundheitlich angeschlagen, dann kommt dieser Entscheid, und nachher geht es einem noch schlechter.»

Nachdem man immer bezahlt hat, ist man auch enttäuscht von der IV.
Autor: Caterina Stierli Abgelehnte Antragsstellerin

Psychiater bestätigen, dass die härtere Gangart der IV die Patienten noch kränker mache. «Ich erlebe Personen, die zu intensiveren Patienten werden, weil sie die IV-Rente verloren haben», sagt die Psychiaterin Doris Brühlmeier aus Schlieren.

Depressionen verschlimmern sich

Meistens würden sich körperliche Zusatzkrankheiten oder Folgekrankheiten dazugesellen. «Die Krankenkassen werden mehr belastet. Das Schlimmste ist aber, dass die Patienten keine Lösung sehen und die Depressionen sich verschlimmern», so Brühlmeier.

Weil Brühlmeier wissen wollte, ob das nur in ihrer Praxis so ist, wertete sie Daten aus elf Zürcher und Aargauer Praxen aus. Resultat: Von Integration in den Arbeitsmarkt kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Von 43 Patienten, deren Renten aufgehoben wurden, sind 40 nun komplett vom Sozialamt abhängig. Besonders betroffen sind ältere Schweizerinnen. Auch von den abgelehnten Neu-Rentnern lebt die Mehrheit von der Sozialhilfe.

Patienten werden zu intensiveren Patienten. Die Krankenkassen werden mehr belastet.
Autor: Doris Brühlmeier Psychiaterin

Jene, die hingegen eine IV-Rente erhalten, gehen zur Hälfte einem Nebenerwerb nach. Denn es gebe viele, die durch die Hilfe der IV-Rente ihre Stellen halten können, sagt Brühlmeier. «Man muss vom Segen der Rente sprechen bei psychiatrisch kranken Patienten.»

Der Verlust der IV-Rente mache auch ihre Patienten nicht wieder arbeitsfähig, beobachtet die Zürcher Psychiaterin Maria Cerletti. Aus ihrer Sicht ist die IV zu streng. «Die IV hat die Sanierung der Finanzen als Priorität erhoben, allerdings ist die Sanierung auf Kosten von vielen Einzelschicksalen erfolgt».

Um ihre Hypothese zu belegen, fordert Cerletti schon lange eine breite Untersuchung: «Was ist sechs Monate oder ein Jahr später aus den Menschen geworden, deren Antrag abgelehnt wurde?»

Wenig Spielraum für die IV

Eine solche Verlaufsstudie gebe es bis jetzt nicht, gibt IV-Chef Stefan Ritler vom Bundesamt für Sozialversicherungen zu. Im Alltag habe die IV aber gar nicht viel Spielraum, sagt der IV-Chef. Denn die IV-Praxis leite sich davon ab, was der Gesetzgeber wolle: «Wir haben gesetzliche Anpassungen erfahren in den letzten 10, 15 Jahren. Dazu macht die Gerichtspraxis entsprechend Vorgaben, insbesondere bei psychiatrischen Diagnosen.»

Bei einem Rentenentzug ist die Möglichkeit, dass die Person Erwerb erzielen kann, gegeben.
Autor: Stefan Ritler Bundesamt für Sozialversicherungen

Ein Rentenentzug erfolge aber nur dann, wenn sich die Situation der Person zum Guten verändert habe, ergänzt der IV-Chef: «Das heisst, der Person geht es gesundheitlich besser, und die Möglichkeit, dass sie Erwerb erzielen kann, ist durchaus gegeben.»

Viele Betroffene würden gerne etwas Erwerb erzielen – trotz oder gerade wegen ihrer Einschränkungen. Nur scheint genau das mit IV-Rente meist besser zu gelingen als ohne IV-Rente.

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